„Mit jedem Kind individuell umgehen“, Interview mit Gabi Preis

50 Jahre Kinderladen Wiehre: Ein Gespräch und Rückblick mit der langjährigen Erzieherin und Kindergartenleiterin Gabi Preis, die von 1975 bis zu ihrer Rente dort gearbeitet hat.

Foto: Achim Keller
Foto: Achim Keller

Eigentlich wollte sie anfangs nur mal schauen, was so in einem Kindergarten gemacht wird, das war im Jahr 1975.  Ein Kindergarten sei  gar nicht ihr berufliches Ziel gewesen, aber dann ist Gabi Preis doch im Kinderladen in der Urachstraße geblieben, zunächst als Erzieherin, dann auch als Leiterin. Der Kinderladen e.V., gegenüber vom Wiehrebahnhof, der von Eltern gegründet wurde, feiert dieses Jahr sein 50-jähriges Bestehen. Er hat eine bewegte Geschichte und vereint viele engagierte Menschen. Ein guter Augenblick für einen Rückblick mit Gabriele Preis, die vor drei Jahren in Rente ging.

Mit den 68er und 70er Jahren verbindet man Flower-Power und Hippies. War das Konzept des Kinderladens entsprechend unkonventionell?

Gabi Preis: Für die damalige Zeit war das Konzept schon revolutionär. Die individuelle Entwicklung des Kindes stand ganz im Vordergrund.

Sie sind inzwischen in Rente. Fehlt Ihnen die Arbeit mit den Kindern? 

Gabi Preis: Naja, ich gehe beispielsweise nachher in eine der Kindergartengruppen, weil sich dort jemand krank gemeldet hat. Ich mache immer noch Vertretungen, wenn es mal eng wird. 

Sie haben gesagt, Sie wollten anfangs gar nicht als Erzieherin im Kindergarten arbeiten. Wieso sind Sie dann doch geblieben?

Gabi Preis: Ich bin gelernte Jugend- und Heimerzieherin und wollte anfangs nur mal schauen, was die da so im Kinderladen machen. Dann bin ich nicht mehr weggekommen. Das Thema antiautoritäre Erziehung hat mich interessiert, das hat meinen Vorstellungen entsprochen. Wir Erzieherinnen haben dabei selbst einen Sozialisationsprozess mitgemacht. 

Was unterschied den Kinderladen von anderen Kindergärten damals?

Gabi Preis: Der Kinderladen war schon sieben Jahre alt, als ich dazu kam. Der antiautoritäre Erziehungsstil wurde dort mit Überzeugung praktiziert. Damals wurden die bestehenden ­Einrichtungen für Kinder abgelehnt, denn die Eltern hatten eine andere Vorstellung von Erziehung und wollten selber mitarbeiten. 

Sie waren gerade mal 22 Jahre alt, als Sie 1975 im Kinderladen zu arbeiten begannen. Waren Sie ein wildes Hippie-Mädchen?

Gabi Preis: Nein, das war ich überhaupt nicht (lacht), kein bisschen.  

Gabriele Preis arbeitete 42 Jahre lang als Erzieherin im Kinderladen in der Wiehre, als sie anfing war sie 22 Jahre alt. (Foto: privat)

Glauben Sie, dass das Erziehungskonzept des Kinderladens sich jetzt etabliert hat?

Gabi Preis: Die Grundlagen sind inzwischen fest integriert. Natürlich hat sich seit den 68ern auch wieder einiges geändert, aber vieles von dem ist bis heute geblieben. Was wir Erzieherinnen bei den Fortbildungen zum baden-württembergischen Orientierungsplan für Kindergärten, der vor rund zehn Jahren eingeführt wurde, lernen sollten, war für uns längst Praxis, wie Elternarbeit sein sollte und wie sie aufgebaut wird – da dachte ich nur, ­na schön,  das haben wir seit jeher so praktiziert.  Bei uns wurde auch die Konzeption mit Eltern erarbeitet und von ihnen mitgetragen. Die Kinderläden waren da große Vorreiter. 

Glauben Sie rückblickend, dass sich die anti–autoritäre Erziehung bewährt hat?

Gabi Preis: Natürlich gab es schon damals Diskussionen, dass sich bestimmte Punkte bei diesem Prinzip nicht halten können. Nicht jedes Kind kann damit umgehen. Jedes Kind braucht etwas anderes. Ich hatte Kinder bei mir, die sich mit ganz wenig Anleitung zurechtfanden, andere brauchten mehr Begleitung oder Unterstützung. 1975 war die antiautoritäre Erziehung auch schon zunehmend in die Kritik geraten und wurde  in der Praxis nicht mehr zu 100 Prozent umgesetzt. Der Kern unserer Einrichtung ist der individuelle Umgang mit jedem Kind.

Ein Kindergarten, der in Elternhand liegt und einer Elterninitiative entstammt, macht die Arbeit ja nicht unbedingt unkompliziert. War es manchmal schwierig?

Gabi Preis: (Lacht.) Einen Großteil der Arbeit hat tatsächlich die Elternarbeit ausgemacht. Aber das fand ich auch total interessant.  

Die verbliebene, unter Denkmalschutz stehende Quäkerbaracke auf dem Gelände des Kinderladens an der Urachstraße. (Foto: Achim Keller)

50 Jahre Kinderladen ist eine sehr lange Zeit. Gab es auch Stimmen, die ein schnelles Ende dieser Einrichtung prognostiziert haben? 

Gabi Preis: Oh ja, das Sozialamt, das für uns anfangs zuständig war, meinte, dass sich ein so kleiner Kindergarten nicht lange halten werde. Im Grund standen wir oft schon vor dem offenen Grab. Aber in der Praxis gab es immer Eltern, die sehr interessiert waren. Wir hatten nie das Gefühl, dass unser Kindergarten nicht mehr gefragt ist. 

Was macht den Kinderladen denn heute aus? 

Gabi Preis: Ich denke, es ist der sehr persönliche Kontakt unter den Eltern, den Kindern und den Erzieherinnen und Erziehern. Alle kennen sich, auch die Kinder kennen alle Eltern. Das finde ich eine schöne Sache. Das Achten auf das Individuum, das wird sehr wichtig genommen. Jedes einzelne Kind da abzuholen und dort zu unterstützen, wo es ist, auch mit den Eltern zusammen – da findet ein sehr enger Austausch statt. Für die Eltern ist das Mitwirken am Kindergarten eine Bedingung für die Aufnahme. Aber klar, das kann sich nicht jeder zeitlich leisten, es ist ein Privileg. Beispielsweise kochen die Eltern abwechselnd für alle Kinder und alle sind automatisch Mitglied in unserem Verein.

Wo kommen die meisten Kinder her, die im Kinderladen sind?

Gabi Preis: Es sind schon hauptsächlich Wiehre-Kinder. Es besteht viel Kontakt unter den Kindern, aber auch unter den Familien, die sich oft befreunden. Es ist ein enger Verbund. 

War Ihr Abschied vom Kinderladen vor drei Jahren für Sie ein schwerer Moment?

Gabi Preis: Naja, irgendwann hat man auch mal genug von der Arbeit, ich war dann ja 64. Für mich ist es ganz schön, dass ich immer mal wieder Vertretungen mache und einspringe, wenn es eng ist. So leicht habe ich nie gearbeitet (lacht). Es ist keine Belastung da, das ist toll.

In vielen Kindergärten gibt es ja heutzutage kein gemeinsames Essen mehr. Wie ist das im Kinderladen?

Gabi Preis: Bei uns im Kinderladen gibt es um 10 Uhr ein  Frühstück, das die Erzieherinnen mit den Kindern zubereiten. Dann
setzen wir uns an zwei große Tische. Wenn aber ein Kind  ­keinen Hunger hat, dann muss es nicht dabei sein. Beim Mittagessen achten wir aber schon darauf, dass alle dabei sind. 

Haben Sie mit Kindern der ersten Stunde noch Kontakt?

Gabi Preis: Ich bin zum Teil bis heute mit Eltern befreundet. Und wir haben inzwischen auch viele Eltern, die schon als Kind bei uns waren und ebenso Praktikanten und Praktikantinnen.

Was sind so die eindrücklichsten Änderungen, die Sie in dieser langen Zeit bei der Kinderentwicklung beobachtet haben? Dass die Kinder jetzt Handys haben?

Gabi Preis: Nein, bei uns haben die noch keine Handys. Aber vor 30 Jahren war es noch die Ausnahme, dass Kinder Fernsehen geschaut haben. Und inzwischen erzählen sie, welche Sendungen sie alles angesehen haben. Leider. 

Ist es eine Entwicklung zum Schlechteren?

Gabi Preis: Das kann ich so nicht sagen. Aber wir haben 15 bis 20 Jahre lang mit praktisch null gearbeitet, wir hatten kaum Mittel, Spielzeug haben wir geschenkt bekommen. Aber es hat auch nichts gefehlt. Wenn ich heute all das glitzernde Bastelmaterial anschaue…,  ich finde, Kinder brauchen das alles nicht unbedingt.

Kinderladen Urachstraße
Der Kinderladen e.V. wurde 1968 von Eltern gegründet und hatte seinen Sitz zunächst in St. Georgen. 1972 erfolgte der Umzug mit zwei Kindergruppen in die Wiehre, in die drei alten sogenannten Quäkerbaracken aus der Nachkriegszeit. 2011 wurde dann ein Neubau eingeweiht, für den zwei der alten Baracken abgerissen wurden, während eine bis heute dort unter Denkmalschutz steht. Zwei Kindergruppen mit je 20 Kindern sind in der Ganztagseinrichtung Kinderladen untergebracht.