Wenn Jagger die „süßen Klänge des Himmels“ hört

Keine Sorge, es ist nur, weil Lady Gaga ihn an die Wand singt. Keith Richards, ganz klar, bringt die Sache auf den Punkt. Über die Rolling Stones und ihr neues Album.

Natürlich ist es Keith Richards, der die Sache auf den Punkt bringt: „Is the future all in the past?Just tell me straight (Liegt die Zukunft nur in der Vergangenheit? Sag es mir einfach direkt). Mit der bitterschönen Ballade „Tel me straight“ auf dem neuen Album der Rollig Stones, „Hackney Diamonds“, singt Keith Richards ein Lied, das aufs Ganze geht. Denn es ist eben nicht eindeutig ein Abgesang des alternden Rockstars. Wenn man mal kurz vergisst, dass Richards 79 Jahre alt ist, und den Song davon unabhängig hört, könnte er für viele junge Liebende sprechen, die in ihren Beziehungen nach der Antwort suchen: Do we have something or nothing at all? Just tell me straight. You got me high and it‘s quite a long fall. Tell me straight, yeah, tell me straight. How do we finish? How do we start? Tell me straight. How do we miss? How do we part? Just tell me straight, just tell me straight (Haben wir etwas oder gar nichts? Sag es mir einfach klar. Du hast mich high gemacht und es ist ein ziemlich langer Sturz. Sag es mir klar, ja, sag es mir direkt. Wie kommen wir zu Ende? Wie fangen wir an? Sag es mir direkt. Wie treffen wir uns? Wie trennen wir uns? Sag es mir einfach direkt, sag es mir einfach direkt). 

Mit ohne Augenzwinkern ( denn er verzog keine Miene) hat Keith Richards dann in der Talkshow von US-Moderator Jimmy Fallon kürzlich auf die Frage, worum es im Song gehe, gesagt: „I can tell you straight that I have no idea what it’s about“. Er kann klar sagen, dass er keine Ahnung habe, um was es da geht. Lässige Ironie.

Und selbst, wenn es um Alterserscheinungen geht, zeigt Keith Richards, wie er so tickt. Der Rolling-Stones-Gitarrist erzählte nun der BBC: Die Rock-Ikone plagt sich mit Arthritis in den Fingern. Es handle sich um eine „gutartige Variante“ der Gelenkentzündung, erklärte Richards. Und führte aus: „Interessant ist, dass jedes Mal, wenn ich sage, „Ich kann das nicht mehr so richtig“, mir die Gitarre zeigt, dass es einen anderen Weg dafür gibt.“ Einer seiner Finger rutsche dann an eine andere Stelle und „es öffnet sich eine komplett neue Tür“.

Wieso braucht es das neue Album der Rolling Stones, obwohl sie selbst es nicht hätten machen müssen?

Es gibt so Schätzungen, wie reich die Stones im Laufe der Jahre wurden. Mit ihren Erfolgen sollen Frontman Mick Jagger und Gitarrist Keith Richards, die einen Großteil der Songs geschrieben haben, jeweils ein Vermögen von rund 445 Millionen Euro angehäuft haben. Der 2021 verstorbene Drummer Charlie Watts, der noch auf zwei der zwölf neuen Songs zu hören ist, soll 221 Millionen Euro besessen haben. Mit geschätzten 177 Millionen Euro liegt Gitarrist Ronnie Wood ein bisschen hinter seinen Bandkollegen. Allein im vergangenen Sommer verdienten die britischen Rocker mit einer 15-Städte-Tournee durch Europa mehr als 8,5 Millionen Dollar – pro Abend. Das macht 127,5 Millionen Dollar an Einnahmen. Da kann man mal entspannt sein. Wir erinnern uns, dass Mick Jagger in München inkognito ein Bierkrug stemmte, bevor es später auf die Bühne ging. Er sah dabei vergnügt aus.

Klar ist also, dass die Stones aus finanziellen Gründen kein neues Album hätten machen müssen. Für Keith Richards wäre der nächste konsequente Schritt übrigens, das neue Album jetzt auf die Bühne zu bringen und nächstes Jahr auf Tour zu gehen. Am liebsten auch nach Deutschland. Denn „irgendwann wird Schluss sein“, so Keith Richards. „Aber noch sind wir gut drauf, haben keine Eile, es macht riesigen Spaß. Es ist das, was wir tun.“ 

Bestimmt gibt es viele Menschen, die auf das neue Stones-Werk, das erste mit eigenen Songs seit 18 Jahren, gewartet haben. Weil sie es als Beweis anführen wollen, dass Rock ’n’ Roll niemals stirbt. Enttäuscht werden sie nicht: Die zwölf Songs sind Rock ’n’ Roll, mindestens.


Mick Jagger war oft zwischen drin

Es gibt ja diesen unbedingt als Zeitdokument sehenswerten Film : „Gimme Shelter“, aus dem Jahr 1970, als Mick Jagger einem Reporter bei einer rummeligen Pressekonferenz auf die Frage „Are you satisfied?“ antwortete: „Financially – dissatisfied. Sexually – satisfied. Philosophically- trying“. Wer den Film anschaut, sieht allerdings auch, wie Jagger eben genau diese Szene hinterher auf einem Monitor anschaut und sich dann selbst mit „Bullshit“ für seine Äußerung beschimpft. In einer ähnlichen Szene sehen sich die Stones dann auf einem Monitor die Szene an, wie beim Altamont Free Concert ein Zuschauer von einem als Ordner eingesetzten Mitglied der Hells Angels erstochen wurde, nachdem er eine Schusswaffe gezogen hatte und auf die Band schießen wollte. Natürlich ist die Frage, weshalb die Stones diese brutale Szene eines Todes zentral in dem Film beließen. Man kann das mutig nennen, man kann auch vermuten, dass es am Ende der Rechtfertigung diente, dass die Stones ausgerechnet die „Hells Angels“ als „Ordner“ angeheuert hatten. Beide Seiten haben sich nach dem Vorfall gegenseitig voneinander distanziert.

Der Song „Gimme Shelter“ („Gib mir Schutz“) selbst (der dem Film seinen Namen gab) gilt vielen Fans und Kritikern als der beste, den die Stones jemals machten. Keith Richards hatte die Idee zum Stück. Es erschien zuerst auf dem Album „Let It Bleed“ von 1969. Zentrales Textstück: „War, children, it‘s just a shot away. It‘s just a shot away (Krieg, Kinder, yeah. Er ist nur einen Schuss entfernt, er ist nur einen Schuss entfernt). Geht über in: „I tell you love, sister, it‘s just a kiss away. It‘s just a kiss away (Ich sag dir Liebe, Schwester, Sie ist nur einen Kuss entfernt. Sie ist nur einen Kuss entfernt, Kuss entfernt, Kuss entfernt).

Es ist wohl kein Zufall, dass Lady Gaga auf dem Live-Konzert der Stones 2012 in Newark genau bei diesem „Gimme Shelter“-Song mit Mick Jagger um die Hölle röhrt und ihn am Ende mit ihrer Stimmgewalt untergehen lässt. Gibt dem Titel „Gib mir Schutz“ aus Sicht von Jagger eine ganz andere Bedeutung. 

Du hattest als Schüler in deinem Jugendzimmer ein Poster von Jagger und den Stones, das vor allem darin bestach, dass Jagger fast melancholisch aussah. Klar, die langen Haare (war damals noch ein Zeichen von Rebellion) und seine dicken Lippen, quasi Schmollmund, eher nicht so männlich. Die „taz“ schrieb nun kürzlich dazu: „Dass Jaggers Androgynität schockierend auf die Umwelt wirkte, ist heute schwer nachvollziehbar. Aber neben den Haaren reichten tatsächlich bereits seine vollen Lippen, um Sit­ten­wäch­te­r:in­nen amtlich zu erregen. (…) Dass sie (die Stones) mit Groupies schliefen, sahen sie, ebenso wie die fast immer weiblichen Groupies, die die Nähe zu provokanten Stars genossen, als Ausdruck sexueller Freiheit.“ Das hat dich allerdings nicht wirklich interessiert. Das war nur die Show.

 
Die Highlights des neuen Albums.

Neben „Tel me straight“ (siehe Textanfang) ist es wieder Lady Gaga, die mit ihrem Gastauftritt die Maßstäbe verschiebt. In „Sweet Sounds of Heaven“röhrt sie Jagger erneut an die Wand. Vielleicht meint er das in der ersten Strophe des Songs: „I hear the sweet, sweet sounds of Heaven. Fallin‘ down, fallin‘ down to this earth

(Ich höre die süßen, süßen Klänge des Himmels. Auf die Erde hinabfallen). Außerdem gibt es noch die wunderbare Aussteiger-Ballade „Dreamy Skies“, die dich an einen frühen Lieblingssong der Stones erinnert, nämlich „Sittin` on a Fence“ (von 1966). Damals sang Jagger: „I´m just sittin‘ on a fence.You can say I got no sense. Trying to make up my mind. Really is too horrifying. So I‘m sittin on a fence (Ich halt´ mich lieber aus allem raus, Ihr könnt sagen, das sieht blöd aus. Wenn ich mich entscheiden soll, ist das wirklich grauenvoll, deshalb halt´ ich mich lieber aus allem raus). Das klingt nun 57 Jahre später so: „Well, I got to take a break from it all. Cause the wind and the wilderness calls (Nun, ich muss eine Pause von allem machen, denn der Wind und die Wildnis ruft). Und wie immer auf diesem späten Album kann man eine Textzeile auch als Abschied verstehen: „And I got to break away from it all. To a place where no one can call (Und Ich muss mich von allem lösen. An einen Ort, wo niemand anrufen kann).