Ein Sommer, so seltsam

Früher war die Sonne des Südens eine Verheißung. Jetzt herrschte Trockenheit in Europa und tobten Waldbrände in Sehnsuchtsorten. Und vor allem war dieser Sommer ein Kriegssommer.

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Der Mensch bewegt sich in Zeit und Raum. Doch die „Zeit“ ist nur eine menschliche Erfindung. Die Zeitmessung gibt es ja übrigens auch nicht bei deinem besten Freund, dem Hund. Der wundert sich nur, warum er immer noch weiter durch den Wald wandern soll, wenn doch längst alles erledigt ist. Er ahnt, dass es vielleicht irgendetwas mit dem Ding zu tun hat, das sein bester Freund, der Mensch da am Handgelenk trägt. Aber er kann das nicht riechen und deshalb auch nicht verstehen. Er legt sich in den Schatten unter Bäume oder beim Meer in den Sand. Soll der Mensch doch schauen, wann es Zeit ist, zu gehen. Und so verging auch dieser Sommer. Er trug bereits den rauen Herbst in sich, der sich ankündigt.

Der Sommer 2022 war anders als viele zuvor. Nicht unbeschwert, nicht leicht, voller böser Fingerzeige. Es gab Hitzewellen und Dürren in Europa, es gab verheerende Waldbrände an fast allen Sehnsuchtsorten von uns Deutschen: in Italien, Südfrankreich, Spanien, Portugal, Griechenland und der Türkei. Die Trockenheit in Europa war die schlimmste seit über 500 (!) Jahren. Spanien als mediterranes Gewächshaus Deutschlands ist gefährdet. Dort könnte bald die Wüste Einzug halten. Du erinnerst dich: Als du Kind warst, war die Sonne des Südens eine Verheißung. Damals war es in Deutschland eher kühl und es regnete oft. Die Wärme Italiens, der Duft, das Meer – das waren Sommerferien! Dazu auch noch Spaghetti mit Tomatensauce. Tja, Raum und Zeit. Damals und heute. Hier und dort. Du und die Welt.

In diesem Sommer ächzte Deutschland unter Hitze und Trockenheit, wie schon öfters in den letzten Jahren. Die Sonne ist keine Verheißung mehr, sondern der Schatten. Die Verlockung, den Urlaub dann noch weiter im Süden (bei knapp 50 Grad Celsius) zu verbringen, nimmt rapide ab. Das Meer gibt es ja auch im Norden.Zwar nicht so blau, okay. Aber wilder und schroffer dafür.  Ebbe und Flut. Dieser Sommer war seltsam. 

Vor allem und hinter allem aber war es ein Kriegssommer. Das gab es für deine Generation noch nie. Wie sollte das gehen, lässig am Strand entspannen, ein Bierchen zischen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, während gleichzeitig in der Ukraine dieser monströse Krieg jeden Tag für so viele Menschen den Tod brachte? Mord, Folter, Verzweiflung, völlige Zerstörung – nicht mehr Flugstunden entfernt als beliebte Urlaubsziele es sind. Raum und Zeit. Wärst du dort, wäre es anders als hier. Dort ein Luftschutzkeller ohne Aussicht, hier nur die zerstörten Urlaubsträume. Das Grauen lässt sich vielleicht für kurze Zeit mal ausblenden. Aber es lauert ständig im Hintergrund. Ein Blick zur Uhr und du denkst, dass es Zeit wäre, mal in den Nachrichten zu schauen. Gibt es etwas „Neues“ im Krieg? Ist etwas Schreckliches passiert? Noch schlimmer als ohnehin schon? Die Atombombe, der dritte Weltkrieg? Der Sommer hat seinen Schrecken.

Aber es hat sich für dich etwas verändert, seit der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar begann. Es ist eine Gewöhnung eingetreten. Du kannst auch wieder Fußballspiele schauen, ohne dass dir das abartig vorkommt. Du kannst mehr Distanz entwickeln als beim Kriegs-Schock am Anfang. Ist vielleicht nicht schlecht. Denn „Distanz“ bedeutet für dich nicht „Davonstehlen.“ Du weißt, dass jeder einfach großes Glück hatte, der in Deutschland (oder einem anderen reichen Industrieland) geboren wurde. In weiten Teilen der Welt ist Hunger, Tod und Verderben einfach Alltag. Wenn Leute hierzulande meinen, sie hätten schließlich ein Anrecht auf unseren deutschen Wohlstand, nur weil sie das Glück hatten, hier zur Welt zu kommen, dann blenden sie die Wahrheit aus.