Was soll mir denn noch passieren? Interview mit Olli Boehm

Olli Boehm war Fotograf und Werbefilmer, dann erkrankte er an Multiple Sklerose, inzwischen sitzt er im Rollstuhl. Über seine Erfahrungen und Gedanken hat er nun ein Buch geschrieben.

Sein Leben hat Olli Boehm der Kunst, den Fotografien, Werbefilmen und der Konzeptentwicklung gewidmet. Dann kam 2008 die Diagnose Multiple Sklerose. Seitdem arbeitet er als Fine-Art-Photographer, Künstler, Berater, Gast-Dozent und Autor. In seinem Buch „Ich bleib mal sitzen. Alles außer gewöhnlich“, schildert er seine Erfahrungen als Rollstuhlfahrer in der (Arbeits-)Welt, den Umgang mit seiner Krankheit und woher er seine Kreativität schöpft. Im Gespräch erzählt er, wie er sich neu erfinden musste und sich dabei künstlerisch von allen Restriktionen frei gemacht hat, und er beantwortet die Frage, wie man einem Rollstuhlfahrer am besten seine Hilfe anbietet. 

Sie sind viel mit Ihrem „Rolli“ unterwegs, Ihrem elektrischen Rollstuhl, dem sie diesen fast schon Kosenamen gegeben haben…

Olli Boehm: Ja, ja, der Olli mit dem Rolli…

Sie schreiben so nett, der Rolli sei mit seinen sechs km/h langsam genug, damit Sie Ihre Umwelt und Ihre Gedanken wahrnehmen können und schnell genug, um den Zug zu erreichen. Sind Sie und Ihr Rolli die allerbesten Freunde geworden?

Olli Boehm: Das sind wir notgedrungen. Wir sind sozusagen eine Zwangsehe eingegangen. Ich kann nicht ohne ihn, aber natürlich kann er ohne mich. Das ist mein wichtigstes Arbeits- und Hilfsmittel geworden.

Sie haben in Ihrem Umfeld mal eine kleine Umfrage gemacht. Sie fragten, Wo und wie fühlt ihr euch wohl? Wo und wie macht das, was man tut, am ehesten glücklich? Die meisten antworteten: Leben, arbeiten, kommunizieren und Ideen austauschen, können das aber nicht alles umsetzen. Schaffen Sie es denn?

Olli Boehm: Ich habe mir natürlich lange genug selbst diese Fragen gestellt und habe auch Zeit gebraucht, um die richtige Antwort zu finden, aber ich denke, ich habe sie gefunden. 

Haben Sie die Antwort mit Ihrer Erkrankung gefunden oder schon davor?

Olli Boehm: Vielleicht habe ich vorher auch mal darüber nachgedacht, aber nicht so konsequent und nicht so intensiv. Ich beschäftige mich, seitdem ich im Rollstuhl sitze, intensiver mit meinem Leben, mit meinem Umfeld. Ich musste mich ja, als ich 2008 erkrankte, notgedrungen neu erfinden.  Das hat ungefähr ein Jahr gedauert, und das ging durch sehr viele Tiefen und einige wenige Höhen, bis ich ein neues Selbstbild für mich fand, mit dem ich zurechtkomme und sagen kann, okay, der bin ich, der will ich sein.  Ich bin keiner, der gerne jammert, ich versuche immer eine pragmatische Lösung zu finden, für jedes Problem. 

Solche schweren Erkrankungen und Schicksalsschläge führt ja oft zu einem vertieften Denken und Beschäftigen mit sich. 

Olli Boehm: Das ist sehr wahrscheinlich so. Wenn man verhältnismäßig problemlos durchs Leben geht, dann stellt man sich solche Fragen nicht so intensiv und nicht so häufig. Ich weiß auch von einigen Leidensgenossinnen, die durch die Erkrankung und diese tiefen Fragen ein neues Selbstbewusstsein erlangt haben. Man hat ja häufig irgendwelche Idole, ob nun beispielsweise irgendwelche Künstler oder Schauspieler, denen man nachstrebt, um möglichst so zu sein, wie sie. Und das ist bei jemandem mit solch einer Erkrankung nicht anders.

Wer ist denn Ihr Idol?

Olli Boehm: Mein Idol … das ist vielleicht etwas maßlos (lacht) – das bin ich selber.

Das ist allerdings maßlos! 

Olli Boehm: (Lacht) Ich habe auch recht lange gesucht, um das zu finden…

Obwohl es so nahe lag…

Olli Boehm: Manche Antwort liegt so nahe und ist doch so schwierig zu finden. Es gab mal  in der 70er Jahren eine amerikanische Krimiserie, „Der Chef“, der fuhr auch im Rollstuhl. An den erinnerte ich mich, und das gefiel mir. Und es gab mal einen Bericht über einen Jungen, er kam aus Südeuropa oder Afrika, der beide Beine verloren hatte und unbedingt Fotograf werden wollte. Alle sagten, das geht nicht. Aber tatsächlich hat er es geschafft, Fotograf zu werden. Das fand ich so beeindruckend! Und da dachte ich, okay, wenn der das schafft, dann schaffe ich das auch. 

Ist das dann auch der Moment, wo Sie in jeder Hinsicht kreativ werden konnten, ohne irgendwelche inneren Grenzen, ob fotografieren, malen oder schreiben?

Olli Boehm: So ist es. Ein Leitspruch für mich seit der Erkrankung, den ich eigentlich nur hinter vorgehaltener Hand spreche, lautet: Was soll mir denn noch passieren? Lebenslänglich habe ich ja schon. Das war anfangs noch eine etwas postpubertäre Aktion, dass man trotzig durch die Welt stapft, aber dadurch auch Kraft schöpft, mit seiner Situation leben zu können. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit hier an meiner kleinen Terrasse eine Begegnung. Nebenan entsteht ein neues Haus und es kamen Interessenten. Als diese wieder ins Auto stiegen, sagte die eine Frau zur anderen, „Igittigitt, guck mal, ein Rollstuhlfahrer!“ 

Unglaublich, das kann ich mir nicht vorstellen!

Olli Boehm: Wirklich, ohne scheiß. So was passiert immer wieder. Und mit solchen Situationen fertig zu werden, dazu bedarf es eines gewissen Trotzes. Man kann sich natürlich nach so einer Begegnung auch tagelang in seinem Zimmerchen einschließen, aber da kommt man nicht weiter. Als meine Erkrankung begann, war ich in einer recht depressiven Stimmung, insbesondere als das Laufen zunehmend unmöglich wurde. Ich bin noch lange mit meinem Gehstock, den ich Herr Schmidt genannt habe, gelaufen. Inzwischen hangele ich mich durch all die Situationen und versuche immer noch etwas Gutes dabei zu finden. 

Können Sie bitte für alle Wenig- oder Teilwissende eine kurze Erklärung geben, was Multiple Sklerose (MS) ist?

Olli Boehm: Eine chronische Nervenerkrankung. Kindern erkläre ich es so: Stell dir vor, du hättest in deinem Kopf ganz viele Drähte, die miteinander verbunden sind, damit alles funktioniert, Augen, Muskeln und so weiter. Wenn die Isolierung dieser Kabel verloren geht, dann gibt es Kurzschlüsse. Und das führt dazu, dass man einige Dinge nicht mehr so gut oder gar nicht mehr kann wie vorher. Das ist die einfache Erklärung. Es ist eine Autoimmunerkrankung. Die genaue Ursache ist nicht bekannt. 

Sie sind ausgebildeter Fotograf, sie haben als Werbegrafiker und Regisseur für Werbefilme gearbeitet, inzwischen sind Sie eher als Berater und Dozent unterwegs, und künstlerisch arbeiten Sie mit Fotografien, die Sie übermalen. Hat sich – rein beruflich gesehen – Ihr Leben eher verschlechtert oder vielleicht sogar verbessert seit Ihrer Erkrankung?

Olli Boehm: Ich würde sagen, es hat sich stark verändert. Da ist auch das weinende Auge, denn als Webefilmregisseur habe ich leidenschaftlich gerne gearbeitet und das ist mir jetzt zunehmend verwehrt, denn die meisten Agenturen halten nichts von einem, der nicht mehr dynamisch und jung ist oder sogar im Rollstuhl sitzt. Auf der anderen Seite habe ich die Fotografie für mich wiedergefunden und sie mit meiner Malerei kombiniert. Ich kann mit der rechten Hand nicht mehr so malen, wie ich das ursprünglich konnte.  Durch die Fotografie habe ich mir also sozusagen die rechte Hand ersetzt. Und jetzt passt es für mich wieder, durch das Übermalen der Fotografien oder deren digitaler Bearbeitung. Ich bin durchaus ein latent melancholischer Mensch, das wirkt in meine Arbeiten mit hinein und das mag ich sehr. So haben sich einige Türen geschlossen, andere geöffnet. Und es ist ja auch so, einen 18-Stunden-Drehtag könnte ich vielleicht noch schaffen, aber mehrere hintereinander wohl nicht mehr. Insbesondere in Rumänien, wo ich immer sehr gerne gearbeitet habe – die Menschen sind dort so herzlich – waren die Drehtage früher schon sehr lang. Inzwischen sind die Ansprüche in der Werbecommunity extrem hoch, obwohl sie doch immer noch nur mit Wasser kochen. Die nehmen sich sehr wichtig. Ich weiß auch nicht, ob ich mich mit dieser Mischpoke heute so verbinden wollen würde.  

Was ich mich immer wieder frage, wenn ich auf Menschen im Rollstuhl oder auf einen Blinden treffe: Ist es entwürdigend oder übergriffig, wenn ich meine Hilfe anbiete? Erniedrigt man denjenigen damit? 

Olli Boehm: Wenn ich beispielsweise mit meinem Rollstuhl vor einer kleinen Stufe bin, ist es aus  meiner Sicht das Einfachste und Beste, wenn ein nicht gehbehinderter Mensch sagt: Du sagst Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, ich helfe dir gern. Es gibt ja dieses berühmte Beispiel, dass ein Rollstuhlfahrer an der Straßenkreuzung steht oder sitzt, und er wird von einem Passanten einfach auf die andere Straßenseite geschoben. Und der Rollstuhlfahrer sagt, ich wollte aber gar nicht da rüber. Es geht um einen respektvollen Umgang – wobei, man kann auch Witze machen, das ist in Ordnung und auch notwendig,  Bestes Beispiel: der Film „Ziemlich beste Freunde“. 

Ist es nicht auch ein grundsätzliches Problem, dass man immer auf Sitzhöhe ist und aufschauen muss zu anderen, die stehen? Auch wenn hochfahrbare Rollstühle ja wohl aus Stabilitätsgründen nicht machbar sind…

Olli Boehm: Da haben Sie vollkommen recht, das wäre schon ganz schick. Ich habe mich da weitestgehend daran gewöhnt im Laufe der Jahre.  Meist schlage ich auch vor, lass uns weiter unterhalten, wenn wir am Tisch sitzen. Und wenn man sich nebeneinander fortbewegt und miteinander spricht, geht es auch.

Aber bei Rollstühlen, die nicht elektrisch sind, läuft die andere Person, mit der man sich unterhält, ja sogar hinten und spricht über den Kopf des Rollstuhlfahrers hinweg. 

Olli Boehm: Ehrlich gesagt, könnte ich mir einen Rollstuhl, der nicht elektrisch ist, auch nicht vorstellen. Das würde in einem Maße in meine Selbstbestimmung eingreifen, wie es für mich nicht zu akzeptieren wäre. Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch, und wenn ich nicht jederzeit die Möglichkeit habe, rechts auszuscheren, fühle ich mich nicht wohl. 

Sie schreiben in Ihrem Buch über Mut und Motivation als Motor. Und irgendwie ist dieses Buch, das ein lässiges und persönliches Kaleidoskop an Ideen und Gedanken über Kreativität und Handicap ist, auch mutig.

Olli Boehm: Ich wollte ein unterhaltsames Buch schreiben, das den ein oder anderen informiert und inspiriert. Eine Motivation dieses Buch zu schreiben war auch diese: Ich bin jahrelang immer in die gleiche Multiple Sklerose-Klinik halbjährlich zur Cortison-Gabe gefahren. Dort trifft man dann alle halbe Jahr seine Leidensgenossinnen und -genossen, erfährt, wie die so im Leben stehen oder eben nicht mehr oder sitzen. Ich fand es immer schwierig und konnte schlecht damit umgehen zu sehen,  welches Potenzial an Wissen, an Kreativität da brach liegt, weil sie nicht arbeiten durften oder nicht motiviert waren ihr Potenzial zu nutzen.  Viele könnten noch so viel, aber dürfen nicht mehr arbeiten, man traut es ihnen nicht mehr zu. Das macht mich traurig und wütend. Das war einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte zeigen, seht ihr, das könnt ihr auch! Macht einfach, es reißt euch keiner den Kopf ab. 

Interview: Barbara Breitsprecher
Das vollständige Interview können Sie unter
www.barbarabreitsprecher.de lesen