Mit dem spitzen Finger der Moral

Es scheint, dass Abweichung in Deutschland stigmatisiert wird. Ist ja fast wie in Russland.

Mit dem spitzen Finger der Moral Gerhard Schroeder

Es hat sich eine unerträgliche Unsitte in die zahlreichen Diskussionen über den Krieg in der Ukraine breit gemacht. Und zwar jene einer fixen moralischen Zuspitzung, die den Horizont dermaßen einschränkt, dass am Ende außer bloßer Entrüstung nicht viel übrig bleibt. Es ist offenbar in Mode gekommen, mit dem spitzen Finger auf andere zu zeigen, als würde das in der Realität irgendwie helfen. Hier ein paar Beispiele, von Strack- Zimmermann über Habeck bis Schröder.

Nehmen wir einen Satz von Marie -Agnes Strack-Zimmermann, die in Bezug auf den offenen Brief von Intellektuellen an Olaf Scholz prompt sagte: „„Das können nur Leute sagen, die mit dem Hintern im Warmen sitzen.“ Hoppla. Würde also im Umkehrschluss bedeuten, dass es keine Legitimation für die Forderungen gibt, wenn man nicht  selbst im Krieg ist, etwa in einem Bunker in Mariupol sitzt. Doch dann könnte Strack-Zimmermann ja ebenfalls nichts zur Diskussion beitragen, da sie selbst ja auch mit dem Hintern im Warmen sitzt.

Diese Art von Selbstgewissheit, die nicht eine kritische Auseinandersetzung verschiedener Positionen sucht, sondern einsam entscheidet, wer überhaupt etwas sagen darf, hat die Züge eines Wappentiers. Da sieht sich also Strack-Zimmermann mit ihrem strammen Ruf nach schweren Waffen an der Seite des ukrainischen Volkes. Wer Zweifel an dieser Position hegt, verrät also die Ukraine – behauptet die FDP-Politikerin mal ganz lässig. Sie sagte in diesem Zusammenhang dann auch noch, dass sie sich nicht anmaße eine „Intellektuelle“ zu sein. Na, zum Glück, das wollen wir doch hoffen!

Auch Robert Habeck hat dann in dieselbe Kerbe geschlagen: „Was folgt aus dieser Argumentation? Eigentlich doch nur, dass ein bisschen Landbesetzung, Vergewaltigung und Hinrichtung einfach hinzunehmen sind und die Ukraine schnell kapitulieren solle. Das finde ich nicht richtig.“ Oh, im Ernst?

Nein, das folgt aus dem offenen Brief keineswegs. Robert Habeck diskreditiert die Unterzeichner vielmehr eigenmächtig und stellt sie fast schon auf eine Stufe mit Putin. Das ist eine soft eingefärbte Wir-gegen-die-Mentalität. Es ist also genau das, was Putin ja mit großem Erfolg in seinem Land tut. Soll das jetzt in Deutschland auch so sein, dass alle nur eine Lesart der (schrecklichen) Dinge haben dürfen? Wer nicht für Panzer ist, der ist unerwünscht? 

Kann es wirklich sein, dass heuer in Deutschland jeder Abweichung die Legitimation entzogen wird, und wenn ja, von wem? Jedenfalls von Vielen in der Ampel-Regierung. Und was bringt das dann?

Das kann man auch an der Person von Gerhard Schröder abbilden. Völlig unabhängig von der Frage, wie man die Nähe des Altkanzlers zu Putin und sein Interview in der „New York Times“ findet, ist es doch so, dass Schröder vielleicht der einzige Mann im Westen ist, der einen vertrauensvollen Zugang zu Putin hat. Er könnte vielleicht noch mal helfen, wenn es wirklich darum geht, den Krieg, das unendliche Leiden zu beenden. Trotz seinem Hintern im Warmen. Mit der strammen Strack-Zimmermann redet Putin ja nicht.