Mir kicke in Berlin!

Am 21. Mai im DFB-Pokal-Finale in Berlin treffen auch zwei ziemlich gegensätzliche Konzepte aufeinander. Das mit viel Kohle vom Red-Bull Konzern gepäppelte Leipzig gegen die seit vielen Jahrzehnten von unten nach oben arbeitenden Freiburger. Das wird spannend.

Foto: Achim Keller
Foto: Achim Keller

Oft wird Christian Streich in den Medien für seine diversen Statements gefeiert. Es ist längst Kult, Streich in den Kultstatus zu erheben. Nicht selten wird dabei in den Zeitungen landauf, landab auch versucht, den badischen Dialekt von Streich in der Vordergrund zu stellen. Nach dem Sieg im Halbfinale des DFB-Pokals in Hamburg schrieb etwa die „Süddeutsche Zeitung“ Streich das Zitat zu: „Der schönschte Sieg war des ned.“ Doch jenseits dieses Hypes um den Freiburger Cheftrainer sagt Christian Streich manchmal wirklich wunderschöne Sätze. Zum Beispiel nach dem Bundesliga-Spiel gegen Mönchengladbach (früher 0:2-Rückstand, dann das Spiel auf 3:2 gedreht, dann wenige Sekunden vor dem Abpfiff in der Nachspielzeit noch das 3:3 gefangen): „Wenn ich Fan wäre, dort auf der Tribüne, dann würde ich jetzt eine Dauerkarte kaufen, für die nächsten Jahre.“

Dieser Satz ist echt unschlagbar. Denn natürlich offenbart er, wie sehr Christian Streich selbst Fan seines Teams ist. Da ist einfach Herzenstiefe drin. Und diese Empathie des Freiburger Trainers ist einer der Hauptgründe für den unglaublichen Erfolg des SC Freiburg in dieser Saison. Erstmals seit Bestehen des Vereins spielt der SC am 21. Mai das Finale des DFB-Pokals in Berlin. Gegner ist RB Leipzig. Das ist dann ein Duell auch von hohem symbolischen Wert. Red-Bull-Kohle gegen jahrelange hartnäckige Aufbauarbeit in Freiburg. Dazu später mehr.

Eines ist klar. Eine dermaßen erfolgreiche, ja fußballerisch geile Saison ist für den SC Freiburg ein absolutes Highlight. Das kann und wird sich nicht oft wiederholen. Es ist kein Wunder, dass Christian Streich Fan seiner Mannschaft ist. Denn so, wie diese jetzt zusammen wirkt, ist absolut  außergewöhnlich. Was sind denn die Faktoren, die heuer den Erfolg ausmachen?

Mischung aus Erfahrung und Jungspunden 

Die seltene und perfekte Mischung aus den im Zenit stehenden erfahrenen Spielern und den hochtalentierten Jungspunden ist in dieser Saison perfekt. Da spielt ein Christian Günter als Leader vielleicht seine allerbeste Saison. Er führt, reißt das Team mit und macht neuerdings sogar auch noch wuchtige und entscheidende Tore. Ebenso Nicolas Höfler im zentralen Mittelfeld, der seine Ballruhe und strategische Übersicht nochmal auf ein neues Niveau hochgeschraubt hat. Auch er scheint in der Form seines Lebens zu sein. Ein technisch brillianter Spielmacher im Offensivbereich ist Vincenzo Grifo, der im besten Sinne gereift ist, aber schlitzohrig jung bleibt. Nicht zu vergessen Nils Petersen, der noch immer eine ungeheure Torgefahr mitbringt und sei es als Joker. Die Reife und Erfahrung solcher Spieler (man könnte noch weitere nennen) kombinieren sich ganz prima mit der Frische und jugendlichen Unbekümmertheit etwa eines Wooyeong Jeong, Kevin Schade oder Noah Weisshaupt (auch hier könnte man weitere nennen). Es ist eher selten, dass die Mischung aus jung und „alt“ so perfekt passt wie im aktuellen SC-Team.

Das defensive Dreieck

Die individuelle Qualität von Torhüter Mark  Flekken und den beiden Innenverteidigern Nico Schlotterbeck und Philipp Lienhard ist derzeit eine Klasse für sich. Dieses defensive Dreieck ist allein für etliche Punkte gut. Vor allem in der Zweikampfführung, aber auch im Aufbauspiel sind alle drei Spieler eine wahre Pracht. Es ist selbstverständlich so, dass die gesamte Mannschaft für defensive Stabilität sorgt, von einem Kilometerfresser Lucas Höler in vorderster Linie angefangen bis zu der Zweikampflunge auf der Sechs, Maximilian Eggestein, der eine gewagte und überaus rentable Verpflichtung ist. Dennoch ist es so, dass das defensive Bollwerk im hinteren Zentrum, also Nico Schlotterbeck, Philipp Lienhard und Torhüter Mark  Flekken ein Megafaktor des Erfolgs ausmachen.

Die Doppelbesetzung vieler Positionen

Die Doppelbesetzung vieler Positionen kann man am Beispiel der defensiven rechten Außenbahn sehr gut sehen: Dort hat Lukas Kübler nach der schweren Corona-Erkrankung von Jonathan Schmid seine Chance genutzt, was aber auch heißt, dass mit dem zurückgekehrten Schmid hier nun jederzeit gleichwertige Alternativen bestehen. Dieser Umstand, dass der SC auf etlichen Positionen doppelt gut besetzt ist, hat man im Laufe der Saison auch daran gesehen, dass Trainer Streich oft einen Dreier-Wechsel in der Offensive vornahm. Egal wer für wen – Höler, Petersen, Demirovic, Jeong, Schade, Weisshaupt, Salai, Grifo – es war immer der Luxus der Alternativen. Und diesen hatte der SC Freiburg in seiner Geschichte wahrlich nicht oft.

Die trainierte Standardstärke

Wie in der Nationalmannschaft unter Hansi Flick ist es auch beim SC Freiburg, vor allem in der Verantwortung von Lars Voßler zu einem stark forcierten Training bei Standardsituationen gekommen. Hier ist Freiburg sogar ganz vorne in der Liga. Meist von Günter oder Grifo ausgeführte Bälle sind brandgefährlich, oft auch weil Nico Schlotterbeck, Philipp Lienhard  neben Nils Petersen dann im gegnerischen Sechzehner mit ihrer Kopfballstärke präsent sind.

Der Mut, hoch drauf zu gehen

Der Mut hoch drauf zu gehen und Gegner oft schon an deren eigenem Sechzehner zu pressen, ist natürlich ein taktisch abgestimmtes, mannschaftstaktisches Verhalten. Dabei schaukeln sich Selbstvertrauen und Mut gegenseitig hoch. Durch den Erfolg wächst halt auch die Selbstgewissheit. Und auch hier sind es oft individuelle Entscheidungen, die den Mut demonstrieren. Etwa wenn Nico Schlotterbeck aus dem defensiven Zetrum heraus mit dem Ball am Fuß ein Solo startet, oder auch, wie Mark Flekken in den Spielaufbau mit einbezogen wird. Mutig sind auch rasant geschlagene Flugbälle auf die Außenbahnen, von Höfler, Grifo, Schlotterbeck oder gar von Flekken. 

Der Mut hat das Team bis ins Finale nach Berlin getragen. Man darf wohl daran glauben, dass er das Team auch am 21. Mai nicht verlassen wird. Gegen das hochkarätig besetzte RB Leipzig wäre es auch fatal, zu defensiv zu agieren.

Die Warnung von Streich in Hamburg

Da der Einzug ins Finale ja vor vollem Haus beim Hamburger SV stattfand, nutzte Christian Streich die Gelegenheit, um eine Warnung auszusprechen. Er wünschte dem großen Traditionsverein den baldigen Wiederaufstieg in die Erste Liga und verwies nebenbei darauf, wie viele legendäre Topklubs sich derzeit in der Zweiten Liga tummeln. Neben dem HSV bekanntlich vor allem Schalke und Werder Bremen.

Und ja, obwohl es in Anbetracht einer dermaßen erfolgreichen Saison ein bisschen miesepetrig wirkt, hat Streich durchaus recht, wenn er schon mal für die kommende Saison den Nichtabstieg als Ziel ausruft. Manche erinnern sich noch, wie das 1995 war, als der SC Freiburg im Frühjahr sensationell Tabellendritter wurde (leider gab es damals die lukrative Champions-League noch nicht), dann aber in der Folgesaison im Winter 1995 schon wieder gegen den Abstieg kämpfte. Damals war es, wie es auch wieder kommen könnte: Die besten Spieler wurden im Sommer von der zahlungskräftigeren Konkurrenz weg gekauft. So steht jetzt der Wechsel des bärenstarken Nico Schlotterbeck nach Dortmund ja auch schon fest. Schön, dass dafür Matthias Ginter kommt.

Kunstprodukt gegen Authenzität 

Im DFB-Poaklfinale in Berlin treffen auch zwei Konzepte aufeinander. Ein am Reißbrett mit viel Geld des Red-Bull-Konzerns entworfener Fußball gegen den über die Jahrzehnte von unten aufgebauten Fußball der Freiburger. Man sollte sich aber hüten, dieses Thema zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Was auf dem Platz zu sehen sein wird, ist auf  jeden Fall ein attraktives Endspiel. Also einfach fair den Fußball genießen.

Der große Unterschied, auch wenn der SC daran arbeitet, diesen Unterschied kleiner werden zu lassen, ist die Perspektive künftiger Endspielteilnahmen. Während RB Leipzig aufgrund seiner finanziellen Möglichkeiten immer ein Kandidat fürs Finale ist, geht es für Freiburg um das Hier und Jetzt am 21. Mai 2022. Es könnte dauern, bis es wieder so weit sein wird. Daher gilt #mirfahrenachberlin, Mir kicke in Berlin, oder besser: Mir siege in Berlin!