Ganz grundsätzlich anders, Interview mit Dr. Anja Johnen & Reinhard Sorg

Genderspezifische Unterschiede im Gehör. Interview mit Neurobiologin Dr. Anja Johnen und Hörakustikermeister Reinhard Sorg.

Hörakustikermeister Reinhard Sorg hat für die „Mona&Lisa“-Methode den Freiburger Innovationspreis 2021 und den VR-lnnovationspreis 2022 gewonnen Foto: Mona&Lisa

Reinhard Sorg erinnert sich noch gut daran, wie er auf die Idee der „Mona&Lisa“- Methode kam: In meiner Filiale in Freiburg fiel mir vor 15 Jahren in Gesprächen mit Frauen und auf, dass diese ihre Beschwerden ganz grundsätzlich  anders beschreiben. Frauen mit sehr leichten Hörverlusten klagten bereits darüber, dass sie sich in Gruppen weniger gut orientieren könnten. Kurze Zeit später stieß ich auf eine Studie*, die 2009 in Tübingen und Bochum angefertigt wurde und meine Beobachtung bestätigte: Frauen mit geringen Hörverlusten haben bereits maximale Schwierigkeiten, sich in großen und geräuschvollen Gruppen zu orientieren. 

Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen? Verlaufen bei Ihnen Beratung, Diagnose und Therapie bei Frauen anders?

Reinhard Sorg: Ja, insbesondere bei der Auswahl der Geräte. Es gibt zwar tausende Modelle am Markt, davon sind aber maximal ein Viertel für Frauen geeignet. Davon wissen viele nichts, weshalb Frauen zu uns kommen, die bereits ein Hörgerät tragen, aber noch immer unter Beschwerden leiden – denn es gibt Hörgeräte, die das weibliche Gehör zusätzlichen irritieren.

Wie können Sie da helfen?

Reinhard Sorg: Ein von uns entwickeltes Training im virtutellen Raum ist teil unserer Methode, womit wir Situationen simulieren können. Hierfür haben wir mit einem speziell entwickelten Mikrofon reale Situationen aufgenommen und können diese direkt auf das Testhörgerät streamen. Nur so können wir das ideale Gerät mit der perfekten Feinjustierung finden und die Kundin entsprechend an die Nutzung heranführen.

Dr. Anja Johnen entwickelte gemeinsam mit Reinhard Sorg die geschlechtsspezifische Hörsystemversorgung, © Bild: Mona&Lisa

Unterscheidet sich das weibliche Gehör vom männlichen und worin?

Dr. Anja Johnen: Die Wahrnehmungsempfindlichkeit für Sprache, Sprachkompetenz und die Erfassung emotionaler Zwischentöne ist bei Frauen höher. Frauen haben z.B. auch ein Leben lang ein besseres Wortgedächtnis. Insbesondere die unterschiedliche Statur von Frauen und Männern wirkt sich auf das Hören aus. Die Köpfe von Frauen sind statistisch kleiner, was für das Richtungshören, also die Schallortung, einen großen Unterschied macht.

Was bedeutet das konkret?

Dr. Anja Joboen: Frauen berichten in kommunikativen oder geräuschvollen Situationen, von Problemen, also in Situationen, in denen die Schallortung eine Rolle spielt. Das hat einfach damit zu tun, dass der Kopf meist kleiner ist und die Ohren näher beieinander sind.

Unterscheidet sich das Hörorgan von Frauen auch in der Form von dem der Männer?

Dr. Anja Johnen: Ja, die Form des Hörorgans bei Frauen und Männern unterscheidet sich stark – und zwar so sehr, dass man bereits im Mutterleib nur an der Form des Hörorgans erkennen könnte, ob es ein Mädchen oder Junge wird. Das Hörorgan ist unter einem dicken Knochen, dem Mastoid, hinter der Ohrmuschel gebettet.

Wie wirken sich diese Unterschiede auf die Wahrnehmung von Frauen und Männern aus?

Dr. Anja Johnen: Man kann sagen, dass Frauen hohe und leise Töne und Männer tieffrequentierte Töne besser auswerten können. Das führtauch zu Wahrnehmungsunterschieden, z.B. beim Musikhören.

Welchen Einfluss nehmen Hormone auf das weibliche Hören?

Reinhard Sorg: Nehmen wir ein Beispiel: Junge Mädchen sind gegenüber lauten Geräuschen weniger schreckhaft, mit dem Eintritt in die Pubertät nimmt die Schreckhaftigkeit dann zu. Bei erwachsenen

Frauen stabilisiert sich diese Empfindlichkeit. Mit dem Alter tritt das gleiche Phänomen dann wieder auf. Die Schreckhaftigkeit gegenüber lauten Geräuschen steigt, der Östrogenspiegel sinkt und das Gehör verändert sich. Deshalb wissen wir, dass wir bei der Einstellung von Hörgeräten auf diese Details besonders achten müssen.

Dr. Anja Johnen: Dieser Zusammenhang wurde bereits in vielen wissenschaftlichen Zusammenfassungen bestätigt. Es gibt im weiblichen Ohr Östrogenrezeptoren, wo das Hormon andockt. Man hat herausgefunden, dass es im Ohr einen Signalweg für Östrogen gibt, der den Schutz vor Hörveränderungen steuert. Bis es zu dem Punkt kommt, wo die Hormonumstellung stattfindet.

Welchen konkreten Einfluss hat dies auf das weibliche Hören?

Dr. Anja Johnen: In der Menopause beschleunigt sich die Veränderung des Gehörs. Das wird von Frauen in der Regel auch unmittelbar wahrgenommen, denn es wirkt sich natürlich auf die Lebensqualität aus.

Reinhard Sorg: Genau. Der Hörverlust bei Männern verläuft anders, denn ihre Hörfähigkeit nimmt ab circa dem Alter von 30 Jahren kontinuierlich in kleinen Schritten ab. Frauen erleben diesen Hörverlust dagegen in kürzester Zeit. So gibt es Kundinnen, die uns davon berichten, dass sie vor einem Jahr noch wunderbar gehört haben und heute bereits Orientierungsschwierigkeiten haben.

Nehmen Sie eine Veränderung in der medizinischen Forschung wahr? Lange Zeit gab es da hauptsächlich männliche Probanden und die Forschungsergebnisse wurden dann einfach auf den weiblichen Körper übertragen; mit teilweise schlimmen Folgen für die Frauen,  die unterschiedlichen Symptome eines Herzinfarktes beispielsweise wurden deshalb lange übersehen. 

Reinhard Sorg: In der Medizin ist das noch immer nicht selbstverständlich und wir kommen gerade dazu, uns die genderspezifischen Unterschiede anzusehen. Das ist wahnsinnig wichtig, damit die Gesundheit von Frauen nicht darunter leidet. 

Dr. Anja Jobnen: In meinen Vorträgen weise ich gerne darauf hin, dass 2008 in der European Health Policy fest verankert wurde, dass die geschlechtsspezifische Diagnose und Therapie miteinbezogen werden muss. Seither hat auch die Forschung in diesem Bereich zugenommen und ich denke, dass wir auf einem guten Weg sind. Jetzt ist es wichtig, dass diese Forschung auch in geschlechtsspezifischen Konzepten und Therapien umgesetzt wird.

*Erwähnte Studie: McFadden D, Martin GK, Stagner BB, Maloney, MM (2009) Sex differences in distortion-product and transient-evoked optoacoustic emissions compared.

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Die weibliche Hörgeräte-Akustik
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