Das lässt sich nicht ins Verhältnis setzen

Wie kriegst du das Leid der Menschen in der Ukraine mit den steigenden Benzinpreisen in Deutschland zusammen? Es gibt zu einfache Schuldbilder. Der Krieg ist nicht fern.

Foto: Adobe Stock Foto, tiero
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Du hast dir vor dem Krieg gerne der Scherz erlaubt, zu sagen: „Die Benzinpreise sind mir egal. Ich tanke eh immer für 20 Euro.“ Und dahinter stand ein bisschen Wahrheit. Denn die Tankfüllung für 20 Euro hat immer für eine bestimmte Strecke gereicht, die du regelmäßig fährst. Du konntest sicher sein, damit dein Ziel zu erreichen, ein paar Cent pro Liter mehr oder weniger spielten dafür keine Rolle. 

Jetzt ist das anders. Du würdest auf halber Strecke stehen bleiben. Wie auch der Verzehr von Fleisch, Gemüse, Getreide plötzlich doppelt so teuer geworden ist. Von leeren Regalen wie beim Speiseöl mal ganz abgesehen. Was tun? Die Wahl ist klar: Du kannst entweder das Doppelte für deine Fahrstrecke bezahlen, oder die Fahrstrecke halbieren, um dann wieder mit deinen 20 Euro pro Tanken auszukommen. Du kannst für deine Speisen das Doppelte bezahlen oder davon weniger essen. Um die Fahrstrecke zu halbieren, müsstest du dir Alternativen wie etwa das Bahnfahren oder sportliches Fahrradfahren überlegen. Bei Speiseplan müsstest du kreativ mit der Möglichkeit umgehen, auf andere Lebensmittel auszuweichen. Das Entscheidende dabei ist, dass du überhaupt die Wahl hast.

Die Menschen im Krieg in der Ukraine haben sie nicht mehr. Sie sitzen in Bunkern ohne Essen, Wasser, Strom, Medikamente. Sie können keine sichere Fahrtstrecke mehr zurücklegen. Viele sind getötet worden, wenn sie sich überhaupt auf die Straße wagten. Und es drängt sich dir die Frage auf, wie man das überhaupt ins Verhältnis setzen kann. 

Der ukrainische Präsident Selenskij hat nach dem schockierenden Auffinden hunderter toter Zivilisten, die mutmaßlich von russischen Soldaten ermordet worden waren, etwas ins Verhältnis gesetzt: Er forderte Angela Merkel und Nicolas Sarkozy zu einer Reise nach Butscha auf, wo das Grauen geschah. Dort könne Merkel sehen, „wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat.“ Die frühere Bundeskanzlerin Merkel und der damalige französische Präsident Sarkozy hatten sich im Jahr 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest der zügigen Aufnahme der Ukraine in die Nato widersetzt. Merkel hat über eine Sprecherin ausrichten lassen, dass sie „zu ihren Entscheidungen steht.“

Ist eine solche Zuspitzung okay? Leichen geschundener Menschen als Beleg zu nehmen für eine angeblich fehlgeleitete Politik der letzten Jahrzehnte? Bei allem Verständnis für Selenskij  in Anbetracht des Schocks über solche Morde und bei aller Bewunderung für dessen unermüdlichen Versuch, den Westen „aufzurütteln“,  wird hier zu sehr mit einfachen Schuldbildern hantiert. Denn die mutmaßlichen Mörder sind russische Soldaten, unter einem russischen Kommando, das solche Gräueltaten offenbar zur Kriegstaktik zählt, natürlich gipfelnd beim Oberbefehlshaber Putin. Die Mörder sind nicht Merkel oder Sarkozy. Auch nicht indirekt.

Aus dem einfachen Grund, dass sie nicht wollten, dass das geschieht, was jetzt geschieht. Sie dachten im Gegenteil, dass sie durch ihr Tun genau solch einen Krieg verhindern könnten. Ihr Glaube war falsch, dass Putin sich durch Handel wandeln ließe. Aber ihre Absicht in eben diesem Glauben war nicht falsch. Sie konnten sich schier nicht vorstellen, was jetzt geschieht. Wie Bundespräsident Steinmeier (der als Merkels Außenminister und zuvor als Kanzleramtschef unter Schröder fast 15 Jahre die deutsche Russland-Politik mit verantwortete) jetzt offen sagte:  „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Meine Einschätzung war, dass Wladimir Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde – da habe ich mich, wie andere auch, geirrt.“

Das unendliche Leid der Menschen in der Ukraine lässt sich durch nichts ins Verhältnis setzen zu dem was wir tun. Wir sind auch nicht schuld daran. Wir können aber schon mal in die Perspektive gehen, was denn wäre, wenn auch bei uns der Krieg herrschte. Das ist ja nicht mehr so fern. Wie stehen wir dann zusammen, beim Einkaufen, beim Tanken, beim Einschränken, beim Angsthaben? 

Dein Auto hast du nun schon so lange stehen gelassen, dass es nicht mehr anspringt.