Politische Orgien wegen Omikron

Die politischen Akteure sind nicht schuld an der Omikron-Welle, die ja alle Nachbarländer auch nicht verhindern konnten. Es war reines Glück, dass Omikron sich als nicht ganz so gefährlich erwiesen hat. Darauf sollte keiner einen parteipolitischen Vorteil aufbauen wollen.

Angela Merkel war es, die das scharfe Wort der „Öffnungsdiskussionsorgien“ in die Welt setzte. Das war im April 2020, also an Ostern vor zwei Jahren. Und Ostern 2022 gilt bei Wissenschaftlern wie Christian Drosten, der mit seinen Prognosen immer richtig lag, als frühster Zeitpunkt für Lockerungen. Hingegen wollen Politiker der FDP lieber jetzt schon Lockerungen durchsetzen. Nun ja, natürlich ist es nie verkehrt, sich rechtzeitig Gedanken über die Zukunft zu machen. Wenn jedoch Politiker nur die eigene parteipolitische Linie schärfen wollen, ist das wenig hilfreich. Es sollen nun schrittweise bis zum 20. März nahezu alle „tiefgreifenden“ Maßnahmen gegen Corona zurückgefahren werden. Und dies obwohl Wissenschaftler einhellig vor zu viel Lockerungen warnen. Ja, man kann das frei nach Merkel eine politische Orgie nennen. Jeder will der Erste sein, der die Freiheit verkündet. Das böse Erwachen könnte folgen.

Nur mal so zur Erinnerung: Deutschland stuft Länder mit einer Inzidenz über 1000 immer noch als „Hochrisikogebiete“ ein, hat aber derzeit eine Inzidenz im Land von um die 1.400. Zwar scheint sich seit einigen Tagen die Welle zu brechen – aber noch immer auf schwindelerregendem Niveau.  Dabei ist die Dunkelziffer enorm, weil Tests fehlen und die Gesundheitsämter weit über dem Limit sind. Und trotzdem sollen die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus nun schrittweise außer Kraft gesetzt werden, wie auf der Bund/Länder Ministerkonferenz beschlossen wurde.  Es ist wieder einmal ein Gezerre und Getue, je nach Parteilinien und im Hickhack zwischen Bund und Ländern. Die Rede ist von „Öffnungsstrategien“ und von „Exit“. Ja es sind tolle Worte, die da aus den Mündern purzeln und mit denen sich die Köpfe hinter den Mündern profilieren wollen. Es wirkt wie ein Wettlauf um die Krone der Freiheit. Wer sie zuerst zur Sprache brachte, möchte als der Heilsbringer gelten. Sprich: Grober Unfug!

Was sagen die Wissenschaftler dazu? 

Vertreter der Medizin warnen davor, zu früh mehr Lockerheit walten zu lassen. So sagte der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner: Nachdenken könne man über Öffnungsschritte, „aber realisieren sollte man sie jetzt noch nicht“. Denn nach wie vor erkrankten statistisch gesehen 0,5 Prozent der Neuinfizierten schwer – auch wenn die Omikron-Variante Studien zufolge meist einen milderen Krankheitsverlauf verursacht als etwa die Delta-Variante des Virus. Doch diese 0,5 Prozent bedeuteten noch immer täglich mehr als 1000 Betroffene, die schwer erkranken. Zudem verweist Wendter auf die anhaltend hohe Belastung für Krankenhäuser: Die Auslastung der Intensivbetten sei „nicht die ganze Wahrheit“. Denn bei Omikron seien „stattdessen im hohen Maße eben die Normalstationen gefordert“, so Wendter. 

Der Berliner Virologe Christian Drosten blickt auf Mitte April als möglichen Wendepunkt: „Das heißt, man kann vielleicht sogar überlegen, dass man das Ganze jetzt bis Ostern noch durchhalten muss. Dass die Maßnahmen, die jetzt in Deutschland immer noch in Kraft sind, übrigens wegen der Impflücke und wegen unserer schlechten Erfahrungen mit der auslaufenden Delta-Welle vor Weihnachten, dass wir bis dahin eben noch gewisse Maßnahmen halten müssen, die sich subsumieren lassen unter 2-G-Regel beispielsweise, die wir in Deutschland haben, die in Deutschland dazu führen, dass die Anstiegsgeschwindigkeit von Omikron langsamer ausgefallen ist.“

Der Münchner Virologe Oliver Keppler sagt über Omikron: „Das Label „mild“ ist katastrophal. Wir sprechen hier von einem für viele Menschen tödlichen Erreger und nicht über das Wetter.“

Insgesamt herrscht bei Wissenschaftlern und Medizinern eine große Übereinstimmung darüber, dass Lockerungen der Corona-Bestimmungen zu früh kommen. Viele weisen auch darauf hin, dass der weitere Verlauf der Pandemie noch einige unliebsame Überraschungen bringen könnte. 

Was sagen die Politiker, und warum? 

Mit Eintritt der Ampel-Regierung gibt es eine neue politische Gemengelage. Die längste Zeit der Corona-Pandemie war ja noch unter die Regierung Merkel und der GroKo gefallen. Durch die neue Konstellation erklärt sich denn auch so manches Statement diverser Politiker. Die Bundesregierung ist stets bemüht, einen harmonischen Eindruck zu erwecken, liegt aber in Wahrheit weit auseinander. Ganz zu schweigen von den Ministerpräsidenten der Länder, die gerne ihr eigenes Süppchen kochen, oder wenigstens das Süppchen der politischen Konkurrenz versalzen wollen. Ziemlich eng an den Einschätzungen der Wissenschaftler lag lange die Haltung von Kanzler Olaf Scholz. Wegen der verhältnismäßig niedrigen Impfquote sei es zu früh, jetzt schon zu lockern. „Die Lage ist nicht danach. (…) Ich glaube, wir machen das, was für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande richtig ist: nämlich dafür zu sorgen, dass wir möglichst viele Leben und möglichst viel Gesundheit schützen durch diese Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben.“  Tja, ein paar Tage später kam dann die kleine Kehrtwende des Kanzlers, der nun doch eine schrittweise Öffnung vorschlug. Ob da mal wieder dem Koalitionspartner FDP gehuldigt wurde?

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte mit einer Aussage schockiert, dass es in Deutschland 500 Tote pro Tag gäbe, wenn man jetzt vollständig lockere wie es in Israel getan wurde. Aber auch er schwenkte auf des Kanzlers Linie ein. Parteiraison? 

Kaum überraschend, ist die Ansage von FDP-Chef Lindner, Minister in der Ampel-Koalition: „Wir haben die Omikron-Welle zwar noch nicht hinter uns, aber wir müssen schon jetzt konkret daran arbeiten, wann und unter welchen Bedingungen es zu schrittweisen Öffnungen kommen kann. Man kann Einschränkungen rasch beschließen, das Hochfahren braucht Vorbereitung.“ Nun ja, da Christian Lindner gerne der Entfesselungskünstler unter den Politikern sein will, hat er dann aber das Datum vorweg genommen: 19. März, wenn das bisher vom Bundestag beschlossene Infektionsschutzgesetz ausläuft.

Wie immer ist Markus Söder (CSU) ganz schnell vorne dabei. „Weil die Omikron-Wand zwar steil, aber doch vielleicht eine Wand mit Türen und Fenstern ist in eine hoffnungsvollere Zukunft, brauchen wir neben dem Konzept Vorsicht auch das Konzept Augenmaß und Hoffnung, (…) einen Stufenplan, wie wir in den nächsten Wochen tatsächlich Erleichterungen durchführen können“ Zur Erinnerung: Während der Merkel-Zeit war Söder stets im „Team Vorsicht“ (wie er das selbst taufte), oft an der Seite von Winfried Kretschmann. Es handelt sich hier also um eine typische Söder-Kehrtwende (siehe Seite 7). Winfried Kretschmann übrigens blieb bei seiner skeptischen Haltung gegenüber zu schnellen Lockerungen. Ebenso Robert Habeck, der diesbezüglich also auf Parteilinie ist.

Dreistufenplan auf Abruf 

Der nun ins Auge gefasste „Dreistufenplan“ zur Lockerung bei den Corona-Maßnahmen soll ja eine gewisse Vorsicht mit einer Hoffnungsperspektive verbinden. So soll die 2G-Regel im Einzelhandel sofort und  die 2G-plus-Regel in der Gastronomie ab dem 4. März wegfallen und durch eine 3G-Regel ersetzt werden. So weit, so nachvollziehbar.

Gewagter ist der Plan, dass bei Großveranstaltungen im Freien eine Auslastung von 75 Prozent zulässig sein soll (maximal 25.000 Zuschauer). In Innenräumen könnte eine Auslastung von 60 Prozent erlaubt werden (maximal 6000 Zuschauer). Auch diese Regelungen könnten ab dem 4. März in Kraft treten.

Ab 20. März sollen dann alle tief­greifenden Schutzmaßnahmen entfallen, aber nicht die Maskenpflicht.

Das Fazit 

Die Akteure der Politik werben jeweils für sich. Sie sind nicht schuld an der Omikron-Welle, die ja auch alle Nachbarländer erlebt haben. Es war reines Glück, dass sich Omikron bisher als nicht ganz so gefährlich erwiesen hat. Darauf nun einen parteipolitischen Vorteil aufbauen zu wollen, ist  angesichts der Schicksale vieler Betroffenen aber dann doch zu billig. Bitte keine Polit-Orgie!