Der Nächste bitte! Es ist Zeitenwende

Die Aufgabe des neuen Verteidigungsministers Boris Pistorius besteht darin, der Bundeswehr das wieder zu beschaffen, was die Politik ihr nahm. Die Union übt sich in unseriöser Heuchelei.

So manche Heuchelei ist schwer zu ertragen. Wenn die Union in Person von Oppositionschef Friedrich Merz und dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, Johann Wadephul,   über die zurückgetretene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ebenso herzog wie sie das auch gleich mit ihrem Nachfolger Boris Pistorius tat, will man glauben machen, dass es nur an der jeweiligen Personalauswahl von Kanzler Scholz liegt, dass die Bundeswehr derzeit kaum in der Lage wäre, Deutschland im Falle eines Angriffes zu verteidigen.  Die Wahrheit ist aber: Von 2005 bis 2021 stellte die Union die Verteidigungsminister und -ministerinnen, unter denen die meisten, teils grotesken „Fähigkeitslücken“ der Truppe entstanden sind.

In der Ära Merkel gab die politische Führung  ganz bewusst und in der irrigen Annahme, dass es keine Bedrohung in Europa mehr gebe, den Anspruch auf, dass die Bundeswehr ihren vom Grundgesetz gebotenen Auftrag der Landesverteidigung leisten solle. Die Fixierung lag auf den Auslandseinsätzen der Truppe. Und da die Taliban keine Flugzeuge hatten, brauchte nach dieser Logik die Bundeswehr auch keine echte Flugabwehr. So wurde etwa der „Gepard“ ausgemustert und tut nun in der Ukraine seinen Dienst, wo gerade bitter bewiesen wird, dass ein klassischer Krieg eben doch in Europa toben kann – und Deutschland gut beraten wäre, die Bundeswehr so auszustatten, dass sie im Ernstfall das Land verteidigen könnte. Ja, es gibt da ja noch die Nato, aber will man sich langfristig immer nur auf die USA verlassen, wenn es um Leben und Tod geht? Der Sachstand ist: Hätte die Bundeswehr einen Angriff wie jenen auf die Ukraine abzuwehren, müsste sie den Widerstand nach wenigen Tagen aufgeben – dann wäre nämlich die Artilleriemunition alle.

Der entscheidende Punkt ist dabei, dass solche haarsträubenden Zustände nicht nach 16 Jahren fehlgeleiteter Politik nun innerhalb weniger Monate behoben werden können. Man kann das Jahr der Verteidigungsministerin Lambrecht womöglich als ein verlorenes Jahr einstufen (obwohl sie mit so manchem Entschluss durchaus in die richtige Richtung ging, etwa am Markt befindliches Gerät zu kaufen), und man kann auf Kanzler Olaf Scholz herumreiten, weil er nach dem Rücktritt Lambrechts nicht in der nächsten Minute den Nachfolger im Amt nannte – aber dies alles ist doch Kleinkram im Verhältnis zu den Versäumnissen der 16 Jahre zuvor. 

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die SPD war an den Prozessen ebenfalls beteiligt, die unter Merkel stattfanden. Es mag sogar sein, dass Scholz und Co. damals noch mehr die finanziellen Zuwendungen an die Truppe verhinderten als die damalige Kanzlerin. Dennoch: Wenn  heute die Union, von Merz bis Söder, so tut, als habe die Ampel-Regierung unter Scholz die alleinige Verantwortung für den Zustand der Bundeswehr, dann ist das unseriöse Heuchelei und angesichts des blutigen Krieges in der Ukraine darüber hinaus auch schäbige Parteipolitik.

Christine Lambrecht hat ja leider alles dafür getan, dass man denken könnte, das Problem der Bundeswehr sei schlicht ein Problem der dieses Ministerium führenden Person. Kommunikativ hat sie ja kein Fettnäpfchen ausgelassen, vom „Rohr“ des Gepard, „das in die Luft schießt“, über das stolze Hubschrauber-Foto von ihrem Sohn, der im Bundeswehr-Helikopter in den gemeinsamen Urlaub mit fliegen durfte bis hin zum unfassbar peinlichen Silvestervideo, das Lambrecht ja nun nicht durch die Medien aufgezwungen worden war. Das alles legt nahe, dass sie nicht die richtige Wahl als Verteidigungsministerin war. Damit stünde sie allerdings in einer Reihe illustrer Fehlbesetzungen, von Scharping (Pool-Affaire), über zu Guttenberg (Plagiats-Affaire) bis hin zu sich selbst.

Boris Pistorius hat in seiner Antrittsrede gleich gesagt, dass er die Bundeswehr „stark machen“ will. Vielleicht ist er dafür genau der Richtige, gerade weil er aus Kreisen der Union, in Person von Johann Wadephul als „Mann aus der dritten Reihe“ verunglimpft wurde. Denn seine Aufgabe besteht ja tatsächlich darin, der Truppe das wieder zu beschaffen, was die Unions-Politik ihr nahm.