Der alte Kniff des Autokraten

Der türkische Präsident Erdogan missbraucht das Einstimmigkeitsprinzip der NATO für eigene Zwecke.

Es ist unerträglich, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Einstimmigkeitsprinzip der NATO für eigene Vorteile missbraucht. Wenn er seine Bedenken gegen die baldige Aufnahme von Schweden und Finnland damit begründen könnte, dass diese Länder nicht in die Struktur der NATO passen würden, oder gar, dass diese Länder die NATO schwächen würden, dann wäre das legitim. Denn allein um diese Frage geht es eigentlich bei der Zustimmung der 30 bisherigen NATO-Staaten zu einem Aufnahmeantrag weiterer Mitglieder des Verteidigungsbündnisses: Bringt es die NATO weiter, stärkt sie sogar? Da sagen 29 Staaten: Ja! Und sie alle wollen den Aufnahmeprozess beschleunigen. Erdogan allerdings sieht genau darin seine Chance, sich durch Erpressung zu profilieren. Er will in der Türkei als ein Mann dastehen, der sich gegen alle anderen NATO-Mitgliedsstaaten durchsetzt. 

Das hat Erdogan auch bitter nötig. Es ist ein uralter politischer Kniff, sich außenpolitisch möglichst lautstark zu profilieren, wenn innenpolitisch der Rückhalt schwindet. Erdogan will die Wähler zu Hause beeindrucken, um vor den Wahlen in einem Jahr aus dem Umfrage-Tief zu kommen. Dann sind nämlich in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, doch durch die im Land grassierende Inflation (70 Prozent!) sowie die schlechte wirtschaftliche Lage und den Wertverlust der Lira schwindet die Begeisterung der Türken für ihren Präsidenten rapide.

Die Argumente, die Erdogan für sein Veto gegen den Beitritt von Schweden und Finnalnd anführt, sind nur vorgeschoben. Die Türkei wirft den beiden nordeuropäischen Ländern vor, dass sie „Brutstätten“ für Terrororganisationen seien. Erdogan verweist auf die kurdische Arbeiterpartei PKK. Die will einen kurdischen Staat errichten und ist in der Türkei, aber eben auch in Schweden und Finnland als Terrororganisation eingestuft. Wie ja auch in der gesamten EU. Der Vorwurf, dass Finnland und Schweden die PKK unterstützen würden ist falsch und an den Haaren herbei gezogen. Er begründet sich einzig daraus, dass Stockholm und Helsinki Auslieferungsanträgen der Türkei in der Vergangenheit öfter widersprochen haben, aus Mangel an Beweisen. Das ärgert einen Autokraten wie Erdogan, der sich wenig um Rechtsstaatlichkeit schert. Doch genau deshalb schafft es die Türkei ja auch nicht in die EU. Übrigens: Erdogan hatte in den vergangenen Jahren kein Problem damit, seine Beziehungen mit Russland bis hin zu milliardenschweren Waffenkäufen zu vertiefen, obwohl Moskau – anders als Europa – die PKK nicht einmal als Terrorgruppe einstuft, geschweige denn bekämpft.

Der noch deutlich weitergehende Anspruch von Erdogan, dass auch der syrische PKK-Ableger, die YPG, ebenfalls als Terrororganisation eingestuft wird, scheint unrealistisch. Denn die USA, die mit dieser Gruppe in Syrien verbündet sind, und die EU wollen das bisher nicht tun. Also droht der türkische Präsident mit dem Veto gegenüber der NATO. Und noch mehr: Der türkische Staatschef hat eine weitere Militärintervention gegen die YPG in Syrien angekündigt und damit einen Streit mit den USA angezettelt. Denn die YPG ist Partner Washingtons im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien. Die Drohung mit einem neuen Einmarsch in Syrien erhöht Erdogans Einsatz im Spiel um außenpolitisches Wahlkampf-Kapital. Doch die USA haben schon verlauten lassen, dass sie einen solchen militärischen Schritt so nicht hinnehmen würden. Wollen sich dann echt zwei NATO-Partner bekriegen? Es steht wohl eher zu vermuten, dass Erdogan aktuell das Großmaul gibt, aber dann doch rechtzeitig wieder zu Sinnen kommt.

Neben der Kurden-Thematik geht es bei der Erpressung der NATO durch Erdogan auch um Flugzeuge. Denn die Türkei hat vor einiger Zeit das russische Raketenabwehrsystem S-400 gekauft.  Das sei ein Sicherheitsrisiko, das die Abwehrpläne der NATO gefährdet, fanden die USA. Und deshalb weigern sie sich unter anderem, der türkischen Armee weitere F-35-Kampfjets zu verkaufen. Auch die älteren F-16-Flugzeuge werden nicht mehr geliefert. Das kommt einem Ausschluss aus dem amerikanischen Kampfjet-Programm gleich. Und jetzt will Erdogan sein „Ja“ zum NATO-Beitritt von Schweden und Finnland davon abhängig machen,  dass er wieder zurück ins F-35-Programm kommt.

Das ist natürlich ein riskantes Spiel. Es mag zwar Zugeständnisse an die Türkei geben. Aber ein Veto gegen die Interessen von 29 NATO-Staaten kann auch nicht überstrapaziert werden. Denn es stellt sich ja auch die übergeordnete Frage, ob hier Erdogan (wie Ungarns Orban in der EU) nicht am Ende als derjenige dasteht, der Putin in die Karten spielt. Denn der Kriegstreiber Putin hatte ja von Anfang an darauf gesetzt, dass es innerhalb der EU und der NATO zu Uneinigkeit und Auflösungserscheinungen kommt. Das mag umgekehrt auch der Grund sein, warum NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beschwichtigte und sagte, dass die NATO „Meinungsverschiedenheiten überwinden und einen Konsens finden wird.“