Lob & Lüge

Angela Merkel hat sich erstmals seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ausführlich geäußert. Fehler will sie rückblickend nicht gemacht haben.

Merkelschein

Angela Merkel hat in zwei Interviews nun erstmals seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu der Kritik an ihrer Russland-Politik in den vergangenen Jahren Stellung bezogen. Im vollbesetzten Berliner Ensemble, dem traditionsreichen Theater, fand das erste Interview Merkels seit ihrem Abgang aus dem Kanzleramt statt. „Ich sehe nicht, dass ich jetzt sagen müsste, das war falsch, und werde deshalb mich auch nicht entschuldigen“, war dabei ein zentraler Satz. Es ist ein denkwürdiger Satz. Es ist ein typischer Merkel-Satz, so verschwurbelt, dass er beim Zuhören schwindelig macht. Angela Merkel spricht da, wie wir sie in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft immer wieder erlebt haben. Sie verbleibt maximal im Ungefähren (wie ihr Nachfolger Scholz, der das von ihr abgeschaut hat) und verwischt so konkrete Spuren.

Natürlich muss sich Angela Merkel nicht für den Angriffskrieg entschuldigen, den einzig und allein Putin zu verantworten hat. Diesen hat sie auch eindeutig verurteilt. „Das ist ein brutaler, das Völkerrecht missachtender Überfall, für den es keine Entschuldigung gibt“, sagte Merkel. Der Angriff sei außerdem von Russlands Seite ein großer Fehler. Und weiter: „Was ich mich natürlich gefragt habe ist: Was hat man vielleicht versäumt? Hätte man noch mehr tun können, um eine solche Tragik – ich halte diese Situation jetzt schon für eine große Tragik – zu verhindern? Und deshalb stellt man sich, stelle ich mir natürlich immer wieder diese Fragen.“ So weit, so gut. Denn das sind ja genau die Fragen, die wir uns alle stellen. Interessant sind also nicht die Fragen, sondern die Antworten darauf. Es ist schlicht und einfach ein rhetorischer Trick, wenn Merkel ihrem Publikum vermittelt, dass sie selbst sich ja all die Fragen schon dauernd stellt, die nun von außen an sie gestellt werden.

Scholz und Merkel ähneln sich 

Verdächtig ist dabei immer, wenn bei der Beantwortung solch quälender Fragen gleich die grundsätzliche Absolution vorneweg erteilt wird. Etwa durch den Merkel-Nachfolger Olaf Scholz, der ja zuvor als Finanzminister an der Seite von Merkel ebenfalls in der Regierung war.  Der sagte jetzt: „Der Versuch einer Aussöhnung kann nie falsch sein und der Versuch, friedlich miteinander zurechtzukommen, auch nicht“, so Scholz. „Da sehe ich mich eng an der Seite meiner Vorgängerin.“ Also, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie ähnlich sich Scholz und Merkel darin sind, uns Sand in die Augen streuen zu wollen …

Der aktuelle Bundeskanzler Scholz und die Bundeskanzlerin a.D. Merkel ähneln sich aber auch in der Art und Weise, wie sie sich dann voneinander distanzieren. Scholz fuhr nach seinem Schulterschluss zu seiner Vorgängerin nämlich fort: „Ein Fehler der deutschen Wirtschaftspolitik war es aber, dass wir unsere Energieversorgung zu sehr auf Russland konzentriert haben, ohne die nötige Infrastruktur zu bauen, dass wir im Falle eines Falles schnell umsteuern können“, kritisierte Scholz listig die Entscheidungen, die vor allem die Große Koalition von CDU, CSU und SPD unter der Führung von Merkel zu verantworten hat. Er selbst habe sich ja bereits als Hamburger Bürgermeister dafür eingesetzt, an der norddeutschen Küste Flüssiggas-Terminals zu bauen. „Nun müssen wir das rasch nachholen.“

Umgekehrt teilt Merkel in Sachen Bundeswehr gegen Scholz aus. Hat sie im Interview vorher die Politik der Regierung von Olaf Scholz ausdrücklich gewürdigt und unterstützt, stürzt sie sich nun in eine innenpolitische Abrechnung mit ihrem langjährigen Koalitionspartner SPD, der die Bemühungen für eine bessere Ausrüstung der Bundeswehr und das Zwei-Prozent-Ziel der Nato dauernd behindert habe. Erfolglos habe sie „die SPD bequatscht“, dass die Bundeswehr eine bewaffnete Drohne brauche, die nun endlich angeschafft werde. Es ist „nicht an mir gescheitert, dass bestimmte Dinge nicht gemacht wurden.“

Man kennt sich, man lobt sich, man schiebt die Verantwortung wechselseitig aufeinander ab. Das ist in Zeiten des Krieges in Europa nicht so toll.

Merkels Ausführungen zu Putin

Merkel verwies darauf, dass Putin ihr schon 2007 bei ihrem Besuch in Sotschi gesagt habe, der Zerfall der Sowjetunion sei für ihn „die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts“. Damit sei schon damals ganz klar gewesen, „dass da ein großer Dissens ist“.  „Putins Hass, Putins – ja, man muss sagen – Feindschaft geht gegen das westliche demokratische Modell“, sagte Merkel. In ihrer ganzen Kanzlerschaft hätten Fragen eine große Rolle gespielt, die aus dem Zerfall der Sowjetunion entstanden sind. Während dies für Putin die größte Katastrophe seines Lebens gewesen sei, sei es für Merkel der größte Glücksumstand gewesen. „Dieser Dissens hat sich immer fortentwickelt“, so Merkel. Putins „Hass und Feindschaft“ richte sich gegen das westliche demokratische Modell. Das habe sie auch immer gesagt. Aber deshalb „kann ich ja nicht so tun, als gäbe es ihn nicht und nicht mit ihm sprechen.“

Also sprach sie mit Putin, selbst wenn der ihr einen schwarzen Hund um die Beine schnuppern ließ. Sie verhandelte beispielsweise nach der Annexion der Krim  das „Minsker Abkommen“ zwischen der Ukraine und Russland, das sie gemeinsam mit dem französischen Präsidenten François Hollande auf den Weg brachte. Merkel erklärte jetzt rückblickend: Es sei damals zu diesen Bemühungen gekommen, als russische Separatisten im Donbass 6000 ukrainische Soldaten umzingelt hätten. Sie wisse nicht, wie weit Putin schon damals gegangen wäre, wenn sich niemand darum gekümmert hätte, sagt Merkel.  „Heute sagen alle: schlecht verhandelt“, empört sich Merkel. Aber damals habe es immerhin eine Beruhigung des Konflikts bewirkt und der Ukraine Zeit gegeben, um sich weiterzuentwickeln.

In Bezug auf Kremlchef Wladimir Putin räumte Merkel ein, dass Ihr Einfluss auf den Moskauer Machthaber kurz vor ihrem Amtsende schwand. „Es war ja klar, dass ich nicht mehr lange im Amt sein würde, und so muss ich einfach feststellen, dass verschiedene Versuche im vorigen Jahr nichts mehr bewirkt haben“, sagte sie.

Sie schloss auf Nachfrage nicht aus, dass Putin mit seinem Angriffskrieg möglicherweise bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Amt gewartet haben könnte. „Mein Ausscheiden kann ein Beitrag gewesen sein wie zum Beispiel auch die Wahl in Frankreich, der Abzug der Truppen aus Afghanistan und das Stocken der Umsetzung des Minsker Abkommens“, sagte Merkel. Das ist eine ihrer Antworten, die nicht schlüssig wirken. Warum sollte Putin warten, bis Merkel geht? Was hätte sie ihm ansonsten denn anderes und mehr entgegensetzen können als ihr Nachfolger? Das riecht ein bisschen nach: „Unter mir wäre das nicht passiert.“ Und damit nach Geschichtsklitterung.

Merkels Ausführungen zur Ukraine 

Merkel verteidigte auch, dass sie sich 2008 gegen eine Nato-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt hatte. Hätte die Nato den beiden Ländern damals eine Beitrittsperspektive gegeben, hätte der russische Präsident Wladimir Putin schon damals einen „Riesenschaden in der Ukraine anrichten können.“

„Man müsse schon aufpassen, „dass wir nicht nur schwarz und weiß sehen“, sagt sie mit Blick auf den Nato-Gipfel in Bukarest 2008, als der Ukraine die schnelle Aufnahme in die Nato verwehrt wurde. Merkel sagt heute, die Ukraine von damals sei eine andere gewesen, noch nicht demokratisch gefestigt und zudem von korrupten Oligarchen beherrscht. Sie sei sich außerdem  sicher gewesen, dass der russische Präsident Wladimir Putin „das nicht würde geschehen lassen“. Merkel weiter: „Ich wollte das nicht provozieren.“

Hier offenbart Merkel einen Politikstil der Lüge. Denn damals hatte sie öffentlich behauptet, dass „Russland kein Vetorecht“ habe. Und während sie das 2008 sagte, hat sie sich in Wirklichkeit doch genau so verhalten, dass dies einem Vetorecht Russlands gleichkam.

Merkel und das russische Gas 

Wenn es denn stimmt, dass Merkel schon früh Putins Feindschaft gegenüber dem Westen erkannte, dann war es unverantwortlich gegenüber ihrem eigenen Land, dass sie Deutschland in eine Abhängigkeit von russischem Gas führte. Von Nordstream 2 ganz zu schweigen. 

Wohlfeil, so oder so 

Ja, es stimmt, dass es wohlfeil ist, wenn Kritiker mit den heutigen Erkenntnissen auf die Politik von gestern schauen und diese verurteilen. Es ist aber ebenso wohlfeil, wenn Angela Merkel heute ein prächtiges Bild ihrer Politik von gestern zeichnet. Denn im Rückblick haben beide Seiten es leicht, die Wahrheit zu kaschieren. Merkels politischer Ziehvater Helmut Kohl vererbte ihr den Leitsatz: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Und daran gibt es nichts zu merkeln.