Es war ein Tag der guten alten Sprüche. Man solle jetzt „mal die Kirche im Dorf lassen“ war ebenso zu hören wie: „Den Ball flach halten“. Zu einem „flach spielen und hoch gewinnen“ hat sich dann aber keiner verstiegen. Ganz groß kam aber die Formulierung „am Ende des Tages“ zur Geltung. Denn es war der 6. Mai 2025, der Tag, an dem Friedrich Merz zum Bundeskanzler gewählt wurde. Merz hat an diesem Dienstag aber zwei Wahlgänge gebraucht, weil er im ersten Wahlgang keine Mehrheit bekommen hat – das ist noch keinem Kandidaten bei einer Bundeskanzlerwahl passiert. Umgehend wurde da natürlich der Begriff „historisch“ ins weite Rund geworfen. Als Merz dann am Abend doch Bundeskanzler war, konnte man sagen, dass es „noch nicht aller Tage Abend“ für Deutschland ist. Aber im Ernst: Die Ereignisse rund um diese Wahl zum Bundeskanzler zeigen auf, worauf es in der Politik der heutigen Zeit ankommt. Insofern können die Turbulenzen (ja, der Merz ist Flieger) auch für die Amtszeit des neuen Bundeskanzlers noch aufschlussreich sein.
Was war eigentlich im ersten Wahlgang passiert? Friedrich Merz hätte die sogenannte Kanzlermehrheit von 316 Stimmen gebraucht, das ist absolute die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags. Die Koalitionäre aus CDU, CSU und SPD waren nach eigenen Angaben vollständig anwesend. Daher hätte Merz mit 328 Stimmen rechnen dürfen, da die Union 208 Sitze im Bundestag hat und der Koalitionspartner SPD 120 Abgeordnete stellt. Tatsächlich hat Merz aber im ersten Wahlgang nur 310 Stimmen erhalten. Daher ist klar, dass ihn mindestens 18 Abgeordnete aus CDU/CSU und SPD ihn nicht gewählt haben. Das „mindestens“ bezieht sich darauf, dass ja keiner weiß, ob nicht auch Abgeordnete aus der Opposition, etwa den Grünen (die ja einen recht guten Deal mit Merz bezüglich der Sondervermögen gemacht hatten) Merz mit einer „Ja-Stimme“ betraut haben. Denn die Wahl war ja geheim. Es könnte also sein, dass es noch mehr Abweichler in der eigenen Koalition gegeben hat.
Von Panikmache bis Klarheit in sechs Stunden
Direkt nach dem doch überraschenden Scheitern von Merz im ersten Wahlgang brach durchaus eine gewisse Panik aus. Diese wurde auch von den Medien sogleich weiter verbreitet. Von einem „Hinterhalt“ im Bundestag, einem „Bombenanschlag“, einer „Blamage“ war da zu hören und zu lesen.
Markus Söder ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, sich die öffentliche Aufmerksamkeit zu sichern, indem er vor „Schaden für unser Land und unsere Demokratie“ warnte. Ein Scheitern der Kanzlerwahl könne „ein Vorbote von Weimar sein“. Das passte hervorragend in die Alarm-Erzählungen der Medien und wurde entsprechend dankbar aufgegriffen. Söder hatte schon früher martialisch davon gesprochen, der versprochene Politikwechsel sei „die letzte Patrone der Demokratie“, auch Merz selbst hatte sich ähnlich geäußert. Wir oder der Abgrund, sollte das heißen. Und passend dazu schrieb die SZ nach dem Scheitern von Merz im ersten Wahlgang: „Das Pulver der letzten Patrone scheint feucht zu sein“. Und weiter hieß es: „Merz‘ Kanzlerschaft ist also schon jetzt historisch – weil ihm die eigene Koalition gleich zu Beginn das Vertrauen verwehrt hat. Für deren Stabilität lässt das schon jetzt nichts Gutes erwarten. Es ist ein schwerer Rückschlag für Merz und die Bundesrepublik insgesamt.“
Ja okay, aber jetzt mal das Kirchendach flach halten. Denn was an diesem Dienstag folgte, war ja eigentlich viel interessanter. Denn da haben die Juristen des Bundestags und der Fraktionen innerhalb von vier Stunden aus einer scheinbar verfahrenen Lage einen Ausweg gefunden. Nur sechs Stunden hat es gebraucht, und die vermeintliche Krise war behoben. Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestags haben sich als stressfest erwiesen. Deutschland hat nun die Aussicht auf vier Jahre mit einer stabilen Regierung – so etwas hätte man, nur als Beispiel, in Frankreich auch ganz gern. Und indem die Union die Zustimmung neben den Grünen auch der Linken brauchte (und erhielt), um den zweiten Wahlgang gleich am Dienstagnachmittag möglich zu machen, hat sie de facto das Kontaktverbot aufgegeben, das sie sich vor sieben Jahren auferlegt hatte und das längst nicht mehr stimmig war.
Auch als das „Drama“ längst keines mehr war, sondern Friedrich Merz innerhalb weniger Stunden und aufgrund guter Absprachen zum Bundeskanzler gewählt war, kam es zu fast schon lustigen „Aufbereitungen“. Im ARD-„Brennpunkt“ verkündete Moderator Markus Preiß, er spreche gleich mit dem „angeschlagenen Bundeskanzler“ Friedrich Merz. So blieb es Merz selbst überlassen, abends in Interviews den Hinweis anzubringen, dass es bei früheren Kanzlerwahlen sogar schon mehr Abweichler innerhalb der eigenen Koalition gegeben habe. Blickten er oder Klingbeil nach vorne, kam der Einwand: „Ich kann ja verstehen, dass Sie lieber nach vorne schauen wollen, aber …“
Dabei Hatte Merz völlig recht. Es ist einfach so, dass sich die politischen Zeiten stark verändert haben. Angela Merkel beispielsweise, die das Scheitern von Merz auf der Bundestagstribüne verfolgte, haben bei ihrer ersten Wahl ins Kanzleramt sogar mindestens 51 Stimmen aus dem eigenen Lager gefehlt. Dass es Merkel trotzdem geschafft hat, lag daran, dass die große Koalition damals tatsächlich noch eine große Koalition war. Und das ist eben auch der entscheidende Fingerzeig, nicht zum Negativen. Denn heute ist eine „präsige“ Politik, die sich auf ohnehin riesige GroKo-Stimmenvorteile stützen konnte, zum Glück nicht mehr möglich. Und was heißt das für Merz und seine neue Koalition? Es bedeutet, dass die neue Regierung immer auch ein Auge auf Oppositionsparteien wie etwa die Grünen und sogar die Linke haben muss und darf. Denn es ist ja übrigens auch nicht ganz klar, mit welchen Stimmen Friedrich Merz im zweiten Wahlgang schließlich zum Kanzler gewählt wurde. Sind nun die Abweichler im eigenen Lager umgekehrt? Oder haben Abgeordnete anderer Parteien dafür gesorgt, dass es nicht zu Neuwahlen kommen musste, die sie alle nicht wollten? Das wird wohl nie geklärt werden. Aber Entscheidungen des Parlaments in der Zukunft sollten von der Regierung so vorbereitet sein, dass sie eine breite Zustimmung auch bei anderen Parteien finden können, um nicht im eigenen Lager erpressbar zu werden. Denn so ist die neue Zeit. Mehrheiten sind eben fragil. Umso mehr wird Überzeugungsarbeit eine Rolle spielen. Eine „mit dem Kopf durch die Wand“-Politik ist unter diesen Umständen zum Scheitern verurteilt. Das genau ist der Fingerzeig, den die „historische“ Wahl zum Bundeskanzler wohl auch dem Kanzler selbst offenbart hat. Und das ist ja nicht schlecht.
Welche Rolle spielt Lars Klingbeil?
Lars Klingbeil hat in einem atemberaubenden Tempo die Macht in der SPD an sich gerissen. Es heißt, bei so manchem SPD-Abgeordneten sei die latente Unzufriedenheit mit der Kabinettsaufstellung in Wut umgeschlagen, nachdem auch noch der Klingbeil-Vertraute Matthias Miersch, bisher Generalsekretär der SPD, neuer Fraktionschef wurde.
Die neue Bundesregierung, so hat es SPD-Chef Klingbeil bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags gesagt, benötige „mehr denn je ein echtes Teamplay“. Nun ja, vielleicht ist das dann gleich bei der Kanzlerwahl schief gegangen, weil Klingbeil selbst nicht als ein solcher Teamplayer angesehen wird, zum Beispiel auch, weil nach dem beliebten Rolf Mützenich auch der beliebte Hubertus Heil leer ausgingen.
Das Versprechen einer Koalition ohne Streit
Nach den Erfahrungen mit der gescheiterten Ampel-Regierung wollen es Merz und Klingbeil ganz anders machen. „Er wird führen, und es wird wenig bis gar keinen oder kaum Streit geben“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in einer Talkshow. Oft wird auch suggeriert, dass der Ampel-Streit die AfD stark gemacht habe. Aber schöne heile Regierung spielen wird wohl auch nicht reichen. Die Demokratie lebt ja vom parlamentarischen Streit.