Ja, sind wir denn nicht alle ein bisschen sensibel?

Kanzler sowie CDU-Chef Friedrich Merz und Finanzminister sowie SPD-Chef Lars Klingbeil machen sich menschlich nahbar, von vergossenen Tränen bis zu Verweisen über ihre Herkunft.

Fotomontage: Adrian Kempf

Was haben Friedrich Merz und Lars Klingbeil so alles GEMEINSAM? Also klar, da fällt einem gleich ein, dass die beiden Männer groß gewachsen sind. Was natürlich besonders auffällt, wenn man sich den vorausgegangenen Regierungschef der Ampel vorstellt. Olaf Scholz war klein und in seiner Kommunikation eher etwas sperrig, während die hoch gewachsenen Merz und Klingbeil es an großen Worten nicht fehlen lassen. Das mit den Taten kommt dann wohl eher später, wie beide unablässig versichern. Nun ja, deshalb haben wir ja auch Zeit, die womöglich noch entscheidendere zweite Frage zu stellen: Was UNTERSCHEIDET eigentlich Friedrich Merz und Lars Klingbeil? Und da soll nun keiner sagen, dass die beiden Männer unterschiedlichen Parteien vorstehen, oder gar ganz unterschiedliche politische Vorstellungen haben. Denn so ist es ja nicht, wie beide unablässig betonen. Nein, nein, der größte Unterschied besteht darin, dass Friedrich Merz über Lars Klingbeil sagt, dass dieser „sehr sensibel“ sei. Klingbeil, aber sagt dasselbe nicht über Merz, so dass dieser es selbst aussprechen muss: „Ich bin auch sensibel.“

So geschehen bei zwei Sendungen jeweils am Sonntagabend bei Caren Miosga. Erst der Merz, eine Woche drauf der Klingbeil. Man darf sich fragen: Muss immer nach dem „Tatort“ noch diese Folter sein? Man geht womöglich lieber gleich ins Bett, statt das angeschlagene Gemüt (vor allem, wenn es im „Tatort“ mal wieder übel zuging) noch mit einer einstündigen Debatte zur deprimierenden Lage des Landes zu belasten. Eine Stunde Einzelgespräch jeweils, die zuerst Merz weniger dafür nutzt, eigene Akzente zu setzen, als seine Leistung und die seiner Koalition zu verteidigen. Und stellenweise setzt er an, zu erklären, dass Regieren schwer ist, ja sogar so gottverdammt schwer. Da meint man den Kanzler-Vorgänger Scholz wie ein kleiner Springteufel aus der Kiste schnellen zu sehen, natürlich mit viel scholzischem Gegrinse. Denn es ist ja so: Als Oppositionspolitiker hat sich Friedrich Merz das Image eines Machers zugelegt, ohne dass er viel machen musste. Jetzt als Kanzler merkt er, dass Regieren doch etwas komplizierter ist, als immer nur Markiges von der Seitenlinie aus rein zu rufen.

Wie Merz und Klingbeil über das Regieren an sich sprechen
Spannend ist, wie Merz über das Regieren an sich spricht. Anstatt wie noch am Tag der Deutschen Einheit den grassierenden Pessimismus im Land zu beklagen, definiert Merz bei Miosga seine eigene Rolle. Er sieht sich selbst als „Antreiber“ einer Öffentlichkeit, „die mitgenommen werden muss“. Das Wahlvolk würde Politiker, die liefern, schon belohnen. Und wenn Miosga ihm Aussagen aus einem Wahlkampf oder von Parteikollegen vorhält, flüchtet sich der Kanzler auf ein: „Ich bin nicht allein in der Regierung.“ Ein Verweis somit auf Lars Klingbeil, der exakt eine Woche später auch bei Miosga sitzt. Lars Klingbeil, der SPD-Vorsitzende, Vizekanzler und Finanzminister, will ja Politik machen für anständige, fleißige Menschen, die morgens früh aufstehen und hart arbeiten. Klingbeil baut dieses Motiv – anständige, fleißige, hart arbeitende Frühaufsteher – in so gut wie jede seiner Reden ein. Miosga machte sich darüber lustig. Das sei keine Floskel, darauf beharrte Klingbeil, sondern spiegle seine politische Grundüberzeugung wider. „In der Berliner Blase, der Sie und ich angehören“, sagte er zu Miosga, sei es manchmal eben schwer zu erkennen, was die Menschen im Lande denken. Viele der Fleißigen und Anständigen würden sich von der Berliner Politik nicht mehr vertreten fühlen. Miosga rief „nee!“ dazwischen und lachte laut auf. Dass Klingbeil sich mit einer Phrase aus seiner anhaltenden Phrasendrescherei befreien wollte, indem er die Berliner Blase bemühte, um die Sendung von Miosga, in der er soeben wohl ganz freiwillig saß, zu diskreditieren, war tatsächlich einen Lacher wert.
Friedrich Merz will also nun der Antreiber für das Land sein und Lars Klingbeil will innerhalb der „Berliner Blase“ die Welt außerhalb davon beschwören. Da wäre natürlich physikalisch interessant, ob das denn geht: zugleich innerhalb und außerhalb von irgendwo zu sein.
Wie Merz und Klingbeil ein neues Selbstbild verkaufen wollen
Über allem scheint der neue Anspruch zu liegen, dass Merz und Klingbeil sich menschlich nahbar machen. Ist ja im Grunde auch gar keine so schlechte Idee, weil damit womöglich auch Leute im Land erreicht werden können, die eine „abgehobene“ Politik ablehnen. Natürlich machen Merz und Klingbeil ihre sensible Nahbarkeit jeweils verschieden fest.
Bei Merz ging es bei Miosga so: Als er auf seine Rede zur Wiedereröffnung der Synagoge in der Reichenbachstraße in München angesprochen wurde, wird er in der Sendung erneut emotional. Während der Rede kämpfte er mit den Tränen. Dazu steht Merz – und sagt, als Vater falle es ihm schwer, „über das Leid von Kindern zu sprechen“. Er mache das alles, also seine Kanzlerschaft, ohnehin nicht für sich, sagt Merz. Sondern er wolle, dass man in zehn Jahren sage, dass Deutschland gut durch „verdammt schwere“ Zeiten gekommen sei.
Nun ja, da darf man schon anmerken, dass Vorgänger Olaf Scholz ebenfalls in diesen verdammt schweren Zeiten regiert hat (vielleicht sogar noch schwerer, weil vieles überraschend kam), was aber den damaligen Oppositionsführer Merz nicht davon abgehalten hat, Scholz als „Klempner der Macht“ zu bezeichnen, ihm außerdem bescheinigte, dass der Job als Kanzler ein paar Schuhnummern zu groß für Scholz sei und der das Regieren „einfach nicht könne.“ Merz suggerierte immer: Es müsste halt nur mal jemand entschlossen die richtigen Schalter umlegen, dann könnte Deutschland wieder durchstarten. Merz glaubte offenbar: „Ich sage etwas, und es passiert.“ Und muss nun zur Kenntnis nehmen, dass es so nicht ist. Daher die neue Nahbarkeit, inklusive Selbstzweifel und sogar dem Eingestehen eigener Fehleinschätzungen. Da kommen dem geneigten TV-Publikum ja fast die Tränen.
Die Story von Lars Klingbeil geht etwas anders: Miosga hatte den Abend wie üblich mit allgemeinmenschlichen Fragen eröffnet: Wie er, Lars Klingbeil, diesen ganzen Berliner Stress nur aushalte, zumal er auch noch ein kleines Kind zu Hause habe. Klingbeil erwiderte, es sei ihm eine Ehre, diesen Job auszuüben, schließlich stamme er aus einfachen Verhältnissen. Ergo: Fleißige und Anständige sind quasi genau wie er selbst, oder vielmehr: Die sollen ihm glauben, weil er doch so sensibel ist. Die Frage ist da natürlich: Glauben ihm die Leute überhaupt DASS er so sensibel ist? Denn da spricht doch so einiges in seiner jüngsten politischen Vita eher dagegen.

Was die Generation Z damit zu tun hat
Die neue Tonlage über alle so sensiblen Menschen hat ursprünglich damit begonnen, dass Kanzler Merz das Land und die Leute dazu aufgerufen hat, nicht immer so eklig über die Generation Z herzuziehen. Denn diese reagiere darauf „sensibel.“
Wenn nun also in der Folge Merz und Klingbeil sich in den Miosga-Talkshows selbst als sensibel geben, dann ist das fast ein Rollentausch. Lars Klingbeil wurde in der Sendung immer wortkarger. Ohne rechte Überzeugung versuchte er klarzumachen, dass eine über Jahrzehnte entstandene Krisensituation nicht binnen weniger Monate zu lösen ist.
Jetzt aber! Da nimmt einer die Rolle derer ein, die später dafür büßen müssen, was zuvor über lange Zeit versäumt wurde. Also das könnte ja tatsächlich das Los der Generation Z sein. Dass aber Klingbeil die Versäumnisse von Jahrzehnten, in denen seine Partei, die SPD, meist mit in der Regierung war, nun auf die „Alten“ abschiebt, das würde sogar die Generation Z nicht so unverblümt tun.
Bei Friedrich Merz wäre es immerhin noch logisch, dass er seiner CDU-Feindin Merkel die Versäumnisse von früher zuschiebt. Aber Vorsicht: Vielleicht ist ja die Teflon-Angela auch ein bisschen sensibel. Und wer weiß? Vielleicht sehen wir sie bald bei Miosga bitterlich weinen.