Die Betroffenen haben das Pechvogel-Problem

Technokraten wie Norbert Röttgen verpeilen mit der Idee eines „gerechten“ Los-Verfahrens zur Musterung und Einzug junger Männer, dass deren Gerechtigkeitsempfinden ganz anders ist.

Fotomontage: Adrian Kempf

Was ist die Natur eines Los-Verfahrens? Die einen sagen, dass dies absolut gerecht sei, weil dabei alle die gleichen Chancen hätten. Doch die Problematik besteht genau darin, dass ja nicht alle gleich sind, die im Losverfahren gleich behandelt werden. Anders formuliert: Die Fähigkeiten und Motivation des jeweils Einzelnen finden bei diesem „blinden“ Verfahren keine Würdigung. Erinnert natürlich an die Justitia, der die Augen verbunden sind. Könnte aber sein, dass dies die Betroffenen ganz anders sehen. Leicht verständlich, wenn man mal Beispiele aus dem Weltfußball nimmt, wo zeitweise der Irrweg des Losentscheids gegangen wurde: So kam es 1968 im Halbfinale zwischen Italien und der UdSSR zum einzigen Losentscheid bei einer EM der Männer, nachdem es nach 120 Minuten 0:0 gestanden hatte. Italien kam durch den Losentscheid ins Endspiel. In der Qualifikation zur WM 1954 trafen Spanien und die Türkei aufeinander und konnten ihre Heimspiele gewinnen. Nach einem Entscheidungsspiel in Rom, das 2:2 n. V. endete, wurde die türkische Mannschaft per Losentscheid zum Sieger ernannt. Es gab gute Gründe, vor allem emotionale, diese Art der Entscheidungsfindung wieder abzuschaffen. Warum? Weil es rein zufällig ist, wer welches Los zieht. Und das ist nicht gerecht, sondern blöd. Besonders, wenn es nicht um ein Fußballspiel geht, sondern um Leben und Tod für eine ganze Generation.


Dabei sollte man als erstes klarstellen: Wenn es wirklich zum Krieg käme, etwa weil Russland es so will, dann geht es nicht nur um Leben und Tod der nachrückenden Generation, sondern um alle. Es könnte dann um das Überleben von Deutschland gehen. Im Kriegsfall wären alle Bürger aufgefordert, ihren Teil zur Verteidigung des Landes beizutragen. Jeder wo er kann. Aber sicher nicht nur die aktive Truppe der Bundeswehr.

Wie der Disput um das Losverfahren lief
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) wollte, dass präventiv alle jungen Männer, bis zu 300 000 pro Jahrgang, gemustert werden. Damit würde bei einem Spannungs- oder Verteidigungsfall mit Wiedereinsetzung der allgemeinen Wehrpflicht sofort ein genaues Bild über die Tauglichkeit der Wehrpflichtigen existieren. Und man hätte nicht nur Namen und Meldeadressen.
Doch dann lautete plötzlich der Plan, dass nur ein Teil der möglichen Wehrpflichtigen gemustert werden sollte, und zwar ausgewählt per Los. Und wenn sich nicht genug Freiwillige fänden, dann sollte dieser Losentscheid auch bestimmen, wer zum Wehrdienst verpflichtet wird.
Diese Einigung zwischen Union und SPD auf eine „Bundeswehr-Lotterie“ wurde zunächst per Eilmeldung vermeldet, doch ihre Halbwertszeit erwies sich als kurz. Boris Pistorius poltert sichtlich genervt: „Das war nicht meine Idee, das war eine Unions-Idee.“ Aus Sicht des Chefunterhändlers der Union, Norbert Röttgen, gibt es einen klaren Schuldigen: Pistorius! Röttgen sagt, er habe es in mehr als 30 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag noch nie erlebt, „dass ein Bundesminister in seinem eigenen Verantwortungsbereich ein wichtiges Gesetzgebungsverfahren frontal torpediert und die eigene Fraktion ins Chaos stürzt“.
War das so? Pistorius reagierte prompt auf die Vorwürfe. „Ich torpediere nicht, und ich bin auch nicht destruktiv“, sagte der SPD-Politiker. „Ich habe nur gewisse Schwierigkeiten damit, dass zwei elementare Stellen meines Gesetzentwurfs geändert werden, bevor dieser überhaupt offiziell in den Bundestag eingebracht worden ist.“ Diese Bedenken habe er auch nicht erst heute geltend gemacht. Später bei der Debatte im Bundestag wird er noch sagen, dass es ihn überrascht hätte, wenn nicht im Parlament aber auch in der ganzen Gesellschaft über dieses wichtige Thema gestritten und debattiert worden wäre. Und dass er das auch gut fände.
Es ist womöglich eine etwas unglückliche Fügung, dass in Boris Pistorius und Norbert Röttgen zwei Politiker bei den Verhandlungen über das neue Wehrdienstgesetz aufeinandergestoßen sind, denen eine gewisse Eitelkeit nicht fremd ist. So hat sich die Sache hochgeschaukelt. Das geht am Ende natürlich wieder zulasten der Koalition. Pistorius hat sich schließlich in der Fraktionssitzung der SPD an die Spitze der Gegenbewegung zum Losverfahren gestellt. Aber wie er dabei mit der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Siemtje Möller umging, die den Plan mit Röttgen ausverhandelt hatte, war ein sicherlich vermeidbarer Schwachpunkt. Denn er hätte als Verteidigungsminister wohl schon früher, auch während der Verhandlungen ein – dann deutlich geräuschloseres – Veto signalisieren können.
Denn es gab ja eine Vorgeschichte in dieser Sache. Der Streit innerhalb der Koalition kreiste seit Langem um zwei Fragen: Kann man allein mit Freiwilligen die Zielmarke von 80.000 zusätzlichen Soldaten, die die Bundeswehr laut den Nato-Verabredungen braucht, erreichen? Und falls nicht, was passiert dann? Die Union war seit eh und je skeptisch, dass man mit dem Ansatz der Freiwilligkeit weit kommen würde. Doch das war nun mal der politische Kompromiss, auf den sich die Koalition zunächst geeinigt hatte, so steht es im Koalitionsvertrag – und so hatte es auch Ende August das Kabinett beschlossen.
Als zuständiger Minister sieht es der SPDler Pistorius zwar gar nicht so anders als die Union, relevante Teile seiner Partei aber wollen von einem neuen Pflichtdienst wenig wissen. Der SPD-Parteitag fasste im Juni dazu folgenden Beschluss: Wenn sich die Sicherheitslage ändere, könne man über weitere Schritte diskutieren. Daran orientierte sich auch Pistorius. Und setzt außerdem darauf, den Wehrdienst mit höherem Sold attraktiver zu machen und darüber genügend Männer zu finden. Unklar blieb in seinem Gesetzentwurf jedoch, was genau passieren würde, sollten sich nicht genügend Freiwillige finden. Die Union wollte einen Automatismus: Falls eine Zielmarke nicht erreicht werde, sollte automatisch eine Pflicht greifen. Und dann kam, plötzlich, die Idee einer Lotterie auf, die der zentrale Baustein für den Kompromiss sein sollte, den Union und SPD nun an diesem Abend vorstellen wollten: Demnach soll das Losverfahren greifen, wenn die Zahl der Freiwilligen nicht ausreicht – und darüber entscheiden, welche jungen Männer zur Musterung geladen und dann gegebenenfalls auch zum Wehrdienst eingezogen werden. Doch dieser Kompromiss gefiel Pistorius gar nicht.


Warum die Los-Idee eine schlechte ist
Unter vielen Experten gilt das Losverfahren in der Tat als keine gute Lösung, da die Kandidaten nach dem Zufallsprinzip und nicht nach der höchsten Motivation und Qualifikation zur Musterung geladen werden. Wenn der Zufall es so will, landen ausgerechnet jene bei der Bundeswehr, die es am wenigsten wollen und können. Unklar ist auch, ob ein Losverfahren überhaupt das Kriterium der Wehrgerechtigkeit erfüllt, das das Grundgesetz erfordert.
Die Perspektive der jungen Männer, deren Namen in der Lostrommel landen sollen, ist freilich nochmal eine andere. Gerade in Zeiten echter militärischer Bedrohungen kann man sich kaum einen tieferen Grundrechtseingriff vorstellen als die zwangsweise Einberufung zur Bundeswehr, und dies nicht nur, weil der Staat in die Lebensplanung eingreift. Soldat zu sein, heißt im Ernstfall, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Das ist längst kein theoretisches Szenario mehr.
Aber aus Sicht der Betroffenen gibt es auch noch das „Pechvogel“-Problem. Viel besser wäre es daher, gleich alle jungen Männer zu mustern. Dann würde sich keiner ärgern, dass gerade er ausgelost wurde. Die Musterung selbst – nicht gerade ein Wohlfühl-Event – würde vermutlich auch weniger unangenehm sein, weil sich alle über die Erfahrungen austauschen könnten. Wenn Technokrat Norbert Röttgen von der Gerechtigkeit des Los-Verfahrens spricht, verpeilt er, dass das Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen völlig anders ist: Warum bin ich in der Kaserne, während mein Schulkamerad Fotos von seinem Auslandsstudium in den USA teilt? Besser wäre es ohnehin, nach Fähigkeiten auszusuchen. Das könnten dann alle verstehen: „Ich bin hier, weil ich geeignet bin.“