Kommt eine Frau zum Ohrenarzt. Der begrüßt sie mit den Worten: „Oh, ich gratuliere Ihnen. Ich habe gesehen, dass Sie kürzlich eine Tochter zur Welt brachten.“ So ist das in vielen Ländern bereits üblich. Wenn alle medizinischen Vorkommnisse eines Menschen digital in einer Akte gespeichert sind, kann der Ohrenarzt halt sehen, was er zur Behandlung von Ohrenschmalz eigentlich nicht braucht. Als einer seiner letzten Amtshandlungen als scheidender Bundesgesundheitsminister hat Karl Lauterbach Ende April noch offiziell den Startschuss zur elektronischen Patientenakte (ePA) gegeben. Er sprach sogleich von einer Zeitenwende in der Digitalisierung des Gesundheitssystems. Er gehe davon aus, dass die allermeisten Ärzte die Akte schon vor dem 1. Oktober, wenn sie verpflichtend wird, nutzen würden. Zudem hätten bislang nur etwa fünf Prozent der Versicherten der Nutzung widersprochen. Deutschland sei zwar spät dran mit der Digitalisierung, sagte Lauterbach. Dafür sei man aber extrem gründlich und habe den Vorteil, die neuen Möglichkeiten der KI mitdenken zu können. Daher gehe er davon aus, dass Deutschland in wenigen Jahren in Sachen elektronische Patientenakte und medizinische Daten die modernste Infrastruktur in Europa haben werde. Na ja, das ist halt typisch Lauterbach. Einerseits ist ihm hoch anzurechnen, dass er die Digitalisierung im Gesundheitswesen endlich voran getrieben hat. Andererseits sind – wie schon bei seiner Krankenhaus-Reform – manche Dinge noch nicht so, wie er es verspricht. Er musste bestätigen, dass nach dem bundesweiten Start der elektronischen Patientenakte (ePA) eine neue Sicherheitslücke entdeckt wurde.
Aber auch diesbezüglich hat Lauterbach seinen Optimismus ins Spiel gebracht. „In der Frühphase des ePA-Starts war mit solchen Angriffsszenarien zu rechnen“, schrieb der SPD-Politiker in den sozialen Medien. Er sei der bundeseigenen Digitalagentur Gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH) dankbar, so Lauterbach, „dass sie auf die ersten Hinweise sofort reagiert und auch diese Sicherheitslücke noch geschlossen hat“. Die Gematik bestätigte: Es überwanden sogenannte ethische Hacker des Chaos Computer Clubs (CCC) eine zentrale neue Schutzvorkehrung und informierten dann die Behörden. Der Chaos Computer Club habe ein Szenario für unberechtigte Zugriffe beschrieben. Über elektronische Ersatzbescheinigungen für Versichertenkarten könne man an Informationen gelangen, um auf einzelne elektronische Patientenakten zuzugreifen, erklärte sie auf ihrer Website. „Die Gematik hat die Sicherheitslücke, die für einzelne Versicherte weniger Krankenkassen bestehen könnte, geschlossen. Die potenziell betroffenen Versicherten werden identifiziert und geschützt.“
Nun gut. Deutschland hinkt ja in der Digitalisierung in vielen Bereichen hinterher und da ist es kein Argument, dass gewisse Risiken bestehen. Wie es ja so schön auf jeder Packung welcher Medizin auch immer heißt: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihre Ärztin, ihren Apotheker oder eben den Chaos Computer Club.
Lauterbach beschrieb die Vorzüge so: Die ePA soll die bisher an verschiedenen Orten wie Praxen und Krankenhäusern abgelegten Patientendaten digital zusammentragen und ein Ende der Zettelwirtschaft im Gesundheitswesen bringen. Notfalldaten, Laborwerte, Röntgenbilder, Arztbriefe, Befunde und Medikationspläne, aber auch der Impfausweis, der Mutterpass, das Untersuchungsheft für Kinder und das Zahnbonusheft sollen schrittweise elektronisch archiviert und schnell abgerufen werden können. Langfristig sollen Patienten auch ihre durch Fitnesstracker gewonnenen Gesundheitsdaten – Blutzuckerwerte, Blutdruckmessungen – in der ePA einspeichern können. Rund 200 000 Leistungserbringer – Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheker, Pflegeheime und andere Gesundheitseinrichtungen – sollen durch die ePA besser vernetzt werden. Mit der digitalen Akte werde die Behandlung besser, da Befunde und Labordaten vollständig vorliegen würden, so der (damals noch) Minister. Patienten würden mündiger, weil sie sich intensiver mit den eigenen Befunden auseinandersetzen könnten. Auch die Forschung werde verbessert, da das Zeitalter der künstlichen Intelligenz (KI) in der Medizin zuverlässige und gute Daten brauche, die nun auf eine sichere Art und Weise zur Verfügung gestellt werden könnten.
Tja, bisher konnte es vorkommen, dass einem Patienten, dem aufgrund einer Krebsdiagnose die Blase vollständig entnommen wurde, von einem nicht informierten Arzt die Frage gestellt wurde: „Haben Sie Beschwerden beim Wasserlassen?“ Die ePA könnte so etwas verhindern, wenn sie erwachsen ist.